in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1967), S. 21-29.
Christian Th. Müller
Veröffentlicht am: 
10. Oktober 2012

 

Der am 21. September 2012 erfolgte Start des Portals Militärgeschichte ist gleichzeitig Anlass erneut über Forschungsstand, Inhalt und Zweck von Militärgeschichte nachzudenken. Neben der Befragung führender Militärhistoriker der Gegenwart liegt es da auch nahe, programmatische Schriften der Vergangenheit als analytische Kontrastfolie heranzuziehen.

Für die deutschsprachige Militärhistoriographie hatte der 1967 in der ersten Ausgabe der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) herausgegebenen Militärgeschichtlichen Mitteilungen erschienene Aufsatz „Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte?“ von Rainer Wohlfeil wegweisende Bedeutung. Wohlfeil reflektierte darin nicht zuletzt die in den frühen 1960er Jahren unter anderem in der Zeitschrift Wehrkunde geführte öffentliche Debatte um die Ausrichtung der Forschungsarbeit des MGFA.

So steht am Anfang seines Aufsatzes die Abgrenzung von der während des Nationalsozialismus in propagandistischer Absicht betriebenen Wehrgeschichte ebenso wie von der von Militärs primär für militärische Ausbildungs- und Erziehungszwecke geschriebenen Kriegsgeschichte. Letztere schien damals für manchen Protagonisten der neugeschaffenen Bundeswehr nach wie vor „eines der vorzüglichsten Mittel zur unmittelbaren Vorbereitung auf das Handeln des Offiziers im Kriege“ (24). Als problematisch an der traditionellen Kriegesgeschichte stellte sich dabei aber nicht allein die lehrhafte Auswertung komplexer historischer Vorgänge nach der applikatorischen Methode, sondern auch der mit der Präsentation von Heldengeschichten verbundene erzieherische Impetus dar.

Als Alternative zu den nach 1945 zu Recht in Verruf geratenen Disziplinen Wehrgeschichte und Kriegsgeschichte postuliert Wohlfeil eine Militärgeschichte, die nicht mehr sein will als ein Zweig der Geschichtswissenschaft. Ihr Gegenstand ist, wie Wohlfeil es in seiner inzwischen klassischen Definition formulierte, ‚die bewaffnete Macht als Institution und alle[r] ihre[r] Erscheinungsformen in ihren „Beziehungen zueinander und zu den Gegenständen der allgemeinen Geschichte“ [Gerhard Papke - CTM] – oder anders ausgedrückt, die Militärgeschichte fragt nach dem Militär als Mittel der Politik in der Hand der Staatsgewalt und nach der bewaffneten Macht als Faktor und politischer Kraft im Rahmen des Staates (25).’ „Die Militärgeschichte untersucht weiterhin das Militär nicht nur als Institution, sondern auch als Faktor des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesamten öffentlichen Lebens.“ Im Mittelpunkt sollte aber „– analog zum Ziel der allgemeinen historischen Wissenschaft, den Menschen und seinen Wirkungskreis zu erfassen – der Soldat in allen seinen Lebensbereichen“ (29) stehen.

Wohlfeil belässt es jedoch nicht dabei, dass Forschungsfeld der damals neuen Disziplin zu umreißen. Zugleich benennt er Grundvoraussetzungen und die damals wesentlichen Desiderata militärgeschichtlicher Forschung. So komme der Historiker, der sich militärgeschichtlichen Fragestellungen zuwende, nicht umhin „sich die unumgänglichen Fachkenntnisse des Militärischen“ (27) anzueignen. Das von Rolf-Dieter Müller kolportierte Bonmot eines bekannten deutschen Zeithistorikers, wonach es ausgerechnet ehemalige Zivildienstleistende seien, die sich bar militärischer Grundkenntnisse vorzugsweise auf dem Feld der Militärgeschichte tummelten [1], ist nur ein Indiz dafür, dass es in diesem Bereich signifikante Defizite gibt. Allerdings wäre es umgekehrt auch ein Trugschluss, annehmen zu wollen, die persönliche Erfahrung des Militärdienstes sei gleichbedeutend mit hinreichenden Fachkenntnissen.

Ähnlich verhält es sich mit den von Wohlfeil benannten Desiderata, die auch nach 45 Jahren noch aktuell sind. So beklagte er das Fehlen einer „befriedigende[n] Gesamtdarstellung des Militärwesens in Deutschland“ (25) und die dominierende Ineinssetzung von preußischer mit deutscher Militärgeschichte. Letzteres führe dazu, dass die Militärgeschichte der anderen deutschen Territorialstaaten nur allzu leicht aus dem Blick gerate (26). Dazu kam schließlich noch die gerade jüngst an dieser Stelle von Stig Förster als Desiderat benannte Rolle des Faktors Militär für die Volkswirtschaft (27). Andere von Wohlfeil als Leerstellen angesprochene Aspekte wie das Verhältnis von Militär und Gesellschaft oder die öffentliche Repräsentation der Streitkräfte sind hingegen in den letzten drei Jahrzehnten intensiv erforscht worden.

Ausgehend von Wohlfeils Definition, was Militärgeschichte sein und leisten solle, stellt sich der zwischenzeitlich erreichte Forschungsstand somit durchaus zwiespältig dar. Die deutsche Militärhistoriographie konzentrierte sich neben der Erforschung von Kriegen vor allem auf die politische Rolle des Militärs sowie seit 1980 zunehmend auf das zivil-militärische Verhältnis. Während dabei der Rolle und Prägung militärischer Eliten, der sozialen Militarisierung etwa über die Kriegervereine und der öffentlichen Repräsentation von Militär in der Gesellschaft große Aufmerksamkeit gewidmet wurde, „fristete die Erforschung der allgemeinen Wehrpflicht als spezifisch männlicher Sozialisationsinstanz lange Zeit ein Schattendasein[2].“

Faktisch stand daher gerade die Lebenswelt der Mannschaften und Unteroffizierdienstgrade – mithin der großen Masse der Soldaten – zu keinem Zeitpunkt im Zentrum des Forschungsinteresses. Ausgehend von diesem je nach Militärorganisation und Untersuchungsaspekt sehr differenzierten Forschungsstand ist es eine wesentliche Aufgabe zukünftiger militärhistorischer Forschung, den Soldaten in seiner Lebenswelt, seinem sozialen und kulturellen Mikrokosmos – so wie es Rainer Wohlfeil bereits 1967 postuliert hatte – deutlich stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Nur so wird es möglich sein, individuelles und kollektives Handeln von Soldaten und Militärorganisationen in Krieg und Frieden umfassend zu begreifen. Gerade in dieser Hinsicht hat sein Aufsatz auch nach 45 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt.

 

[1] Rolf-Dieter Müller, Militärgeschichte, Köln Weimar Wien 2009, S. 11.

[2] Marcus Funck, Militär, Krieg und Gesellschaft. Soldaten und militärische Eliten in der Sozialgeschichte, in: Was ist Militärgeschichte? Hrsg. von Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Paderborn 2000 (= Krieg in der Geschichte, 6), S. 157-174, S. 165.