Julia Barbara Köhne
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
16. Januar 2015
DOI: 
10.15500.akm.19.01.2015

Unerwartet tauchte während des Ersten Weltkriegs eine neuartige ‚Krankheit' in der deutschen Armee und den Millionenheeren der anderen kriegführenden Nationen auf: die so genannte „Kriegshysterie“. Bei der großen Zahl betroffener Soldaten und Offiziere zeigten sich ganz unterschiedliche „hysterisch“ anmutende Symptomarten. Militärmediziner aus dem hier untersuchten deutschsprachigen Raum, vor allem Psychiater und Neurologen, die sich dem rätselhaften Problem annahmen, koppelten die Kriegshysterikerfigur in ihren Schriften häufig mit dem Topos der Masse.

So wurde der „Kriegshysteriker“ in den zugrundeliegenden militärmedizinischen Quellen immer wieder mit traditionell weiblich codierter „Hysterie“ sowie mit Schein, Theatralität, Simulation und gesteigerter Suggestibilität, Affektivität, Ich-Schwäche und Intelligenzhemmung in Zusammenhang gebracht. 1 Diese Beschreibungen fußten auf Befunden der Massenpsychologie aus den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, die die „Masse“ mit gleichlautenden symbolischen Aufladungen versahen (z. B. Gustave Le Bon, Scipio Sighele, Gabriel Tarde). 2 Le Bon hatte in Psychologie der Massen behauptet, das Verhalten von Individuen als Teil eines Kollektivs verändere sich maßgeblich, „durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse“. 3 Es werde eine „Gemeinschafts-“, „Kollektiv-“ oder „Massenseele“ ausgebildet, dabei würden die individuelle intellektuelle Stärke, moralische Einstellungen sowie Entscheidungsmacht des Einzelnen durch Suggestion zurückgedrängt. Die Kollektivseele werde mitunter durch eine Führerpersönlichkeit mit Nimbus, wie unter Hypnose, gesteuert. Die Masse steht in der auf die Frage der politischen Führung zielenden Massenpsychologie bei Le Bon insgesamt für Entsubjektivierung, Erregbarkeit, Leidenschaftlichkeit, Trieb- und Affektgesteuertheit, Primitivität ebenso wie Halluzination, Irrationalität und Unbewusstes. All diese Beschreibungen kehrten in den militärpsychiatrischen und kriegspsychologischen Schriften im Ersten Weltkrieg wieder und wurden - bewusst oder unbewusst - argumentativ eingesetzt, um den „Kriegshysteriker“ als gefahrvollen Störfaktor vorzuführen.

Zunächst erfolgt eine Zusammenschau einschlägiger militärpsychiatrischer Quellen, die die Verknüpfung der Denkfiguren „Masse“ und „Kriegshysterie“ belegen. Sie zeigte sich vor allem in der Vervielfältigung der Diagnostiken, die die Militärmediziner erdachten, um die nicht präzise beschreibbar scheinenden Symptome der „Hysteriker“ festzuhalten. Sowohl in der hohen Beschreibungsenergie, die aufgewendet wurde, als auch in der Komplexität der Krankheitslehre ahmten Militärmediziner dasjenige nach, was sie zu beschreiben suchten, die „Hysterie“. Immer mehr wurde der „Kriegshysteriker“ als Figur stilisiert, die die Negativbilder der Masse verkörperte. Auch die Kriegspsychologie und die hier beispielhaft untersuchten Texte von Paul Plaut bedienten sich Bilder der Masse, um das Problem zu umschreiben, das der Soldat an der Front hatte: Seine Individualität stand den Interessen des Kollektivkörpers Heer entgegen. Ebenso drohte die militärische Ordnung jederzeit in den Zustand der rauschhaften Masse umzuschlagen.

I Militärpsychiatrie

A Massenphänomen: Kriegshysteriker und Symptomatiken

Bereits nach wenigen Kriegsmonaten sahen sich deutsche Militärpsychiater und -neurologen mit einem bedrohlichen Problem der modernen Kriegführung und Massenheere konfrontiert: massenhaft auftretende „Kriegshysteriker“ mit multiplen Symptomkomplexen. Von ungezählten nervenkranken Kriegszitterern war die Rede, deren Symptomatik als ansteckend galt. Im Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege schrieb Otto Binswanger 1921 rückblickend über das „Massenphänomen“: „Eine solche Fülle von männlicher Hysterie ist uns noch niemals geboten worden“. 4

Auch wenn die definitive Anzahl der zwischen 1914 und 1918 von „Hysterie“ befallenen Männer („hysteria virilis“) alles andere als sicher bestimmbar war und ist, wird davon ausgegangen, dass es sich im Verlauf des Kriegs um Hunderttausende handelte. 5 Statistische Angaben zur vermeintlichen Anzahl interessieren hier jedoch weniger als Faktenlieferantinnen denn selbst als Untersuchungsobjekt. Denn die massive Präsenz der „Kriegshysteriker“ schien nach Aussagen von Militärpsychiatern und -neurologen die geordnete Heeresstruktur zu unterminieren und überforderte die Kapazitäten des militärischen Sanitätswesens.6 Ihre unüberblickbare Anzahl, so ließen Militärpsychiater verlauten, sei „ungeheuerlich“, 7 „erschreckend“, 8 ja „verheerend“.9 Es wurde von einer „Hochflut dieser Kranken [Nervenkranken]“, 10 von einer „Patientenflut“, von Ansteckungsgefahr und einer Aushöhlung der Funktionalität des Heeres gesprochen. In Berichten heißt es: „Die Zahl der nicht eigentlich Geisteskranken, infolge der Strapazen des Feldzuges jedoch psychisch zusammengebrochenen Soldaten, ist recht groß und wird voraussichtlich bei längerer Dauer des Krieges noch erheblich anwachsen“. 11 Der Wiener Psychiater Alexander Pilez konstatierte 1919:

„Ohne weiters wieder aus den spezifischen Kriegsverhältnissen ableitbar und erklärlich zeigt sich das erhebliche Überwiegen der hysterischen Psychosen [in Relation zu „alkoholischen“, „periodischen“ und neurologischen Psychosen] bei den Kriegsteilnehmern, speziell bei den Frontkämpfern. Die hysterischen Formen sind es ja auch, die in den Augen der Laien als die eigentlichen ‚Kriegs'-Psychosen imponierten [...].“ 12

Die große Anzahl der Kriegshysteriefälle - Hunderttausende, diese „Unzahl“ - stellte ein ernsthaftes logistisches Problem für die Militärführung und eine unvorhergesehene Herausforderung für die vielfach erst kurzfristig eingesetzten Militärmediziner dar. Der Oberarzt einer Universitätsnervenklinik, A. H. Hübner, sprach von einer „ärztlichen Massenarbeit“, die geleistet werden müsse. 13 Im Vergleich zur Wahrnehmung körperlicher Verletzungen oder anderer mentaler oder seelischer Störungen galt die Kriegshysterikermasse als besonders ‚unheilvoll', da die Ursache für das plötzliche Auftauchen männlicher Hysterie en masse nicht leicht geklärt werden konnte. Außerdem gab es in vielen Fällen keine nachhaltig wirkungsvolle Therapiemethode, die die Betroffenen wieder diensteinsatz- oder arbeitsverwendungsfähig machen konnte. Im Gegensatz zu massenhaft auftretenden physisch Verwundeten hatte die Militärführung nicht mit ihnen gerechnet. Die in Schriften der Militärärzte wie Fachzeitschriftenartikeln, Monographien oder Patientenakten beschriebene Überforderung schlug sich in strategischen Wissensbildern nieder, mit denen die „Kriegshysteriker“ assoziiert wurden. Diese Sprachbilder und rhetorischen Wendungen wurden keinesfalls zufällig, sondern in den Texten durchaus strategisch eingesetzt, um die „kriegshysterischen“ Patienten zu desavouieren und als besonders gefahrvoll darzustellen. Gebräuchlich waren Begriffe wie „Massenphänomen“, „Epidemie“, „Massenhaftigkeit“, „Exzessivität“, „Exzentrizität“,14 „Ansteckung“, „Infektionsherde der psychischen Kriegsseuche“, 15 „Uferlosigkeit“ (H. Oppenheim) 16 und „Bedrohlichkeit“.

B Hysterische Effekte (in) der Wissenschaft?

Nicht nur ihre Anzahl war übergroß, auch das Krankheitsbild der „Kriegshysteriker“ war chaotisch, unübersichtlich und unkalkulierbar. Die Beschreibungen der Militärpsychiater und -neurologen, die auf das Massenphänomen reagierten, wirkten selbst kontur- und willenlos, diffus und unübersichtlich; die eingehende Beschäftigung mit ihrem Forschungsgegenstand ließ die Psychiatrie während des Kriegs selbst hysterisiert erscheinen. Die Deutung der ausufernden Ikonographie des soldatischen „Hysterikers“ und die Umwandlung der körperlichen Zeichen in sprachliche Bilder setzte Kreativität und Phantasie des Militärarztes voraus. Bei der Übersetzung der einen Bildkategorie in eine andere, der wahrgenommenen Bilder „hysterischer“ Körper in bildliche Fachsprache, waren die Militärmediziner auf der Suche nach adäquaten psychologischen oder psychiatrisch-neurologischen Darstellungsweisen. Dies hatte - je nach Wissenschaftsautor - unterschiedliche Notationsweisen und Aufschreibesystematiken der beobachteten Symptomatologien zur Folge. Oftmals gab es nicht nur verschiedenartige charakteristische Krankheitsbilder innerhalb einer Individualdiagnostik, das so genannte Syndrom, sondern es herrschte auch eine Pluralität der Namen. Obschon „Kriegshysterie“ neben „Kriegsneurose“ zwischen 1914 und 1918 zu den am meisten verbreiteten und zugleich umstrittensten Termini gehörte, kursierten in der Nomenklatur wiederkehrender Begriffe zahlreiche andere Benennungen, wie „Zitterlähmung“, „Zitterneurose“, „Schütteltremor“ und „Tic“ oder „reaktive“ oder „psychogene Störung“, „funktionelle Erkrankung“, „traumatische Neurose“, „Nervenshock“ oder „Neurasthenie“, die zum Teil synonym verwendet wurden. 17 Aus der zeitgenössischen Kriegshysterieforschung ist ersichtlich, dass die Körperbilder der „Hysteriker“ eine hohe Produktivität auf Seiten der militärärztlichen Bildinterpretation hervorriefen. 18

Die „Hysterie“ war schon immer ein „integrativer Begriff“, seit ihrer Erfindung vor etwa 2.500 Jahren durch Hippokrates und andere.19 Der französische Psychiater Charles Ernest Lasègue konstatierte Ende des 19. Jahrhunderts, die „Hysterie“ sei ein Papierkorb, in den man alles werfe, was man nicht erklären könne. 201904 sprach der Psychiater Oswald Bumke von einer „unscharfen Begrenzung jener Krankheitsvorgänge, die wir hysterisch nennen“, einer „Unmöglichkeit, in einer scharf geprägten Begriffsbestimmung das gemeinsame Wesen aller dieser Krankheitsäußerungen auszudrücken“ und einer „daraus resultierenden Unsicherheit der Anschauungen über die Zugehörigkeit dieses oder jenes Symptoms zur Hysterie“. 21 Es sei so, dass man

„leider - einen großen Teil der Ermüdungs- und Erschöpfungszeichen [...] als hysterisch ansieht, sobald sie sich als schwer erklärbar oder als schwer heilbar oder unheilbar erweisen und grobe anatomische Grundlagen nicht gefunden werden. [...] Es ist schon oft der Vorschlag gemacht worden, den Ausdruck Hysterie endlich ganz auszumerzen, da er nur Mangel ärztlichen Wissens bei vielen Krankheitsfällen verrät.“ 22

Diese Thematik der Ungewissheit nahm der Psychiater und Gerichtssachverständige in Hysteriefragen Erwin Stransky 1924 auf:

„Das schier grenzenlose Land der Hysterie läßt sich von verschiedener Warte her überschauen, läßt sich auf ungezählten Pfaden durchforsten; man kann versuchen, das verschlungene Labyrinth seiner Symptomatologien zu durchschreiten; man kann es unternehmen, den vieldurchwühlten Boden der Hysterie aufs neue umzuwühlen, in der Hoffnung, irgendwie einmal auf die geheime Ader zu stoßen, welche die Antwort auf die seit zwei Jahrtausenden immer wieder gestellte Frage enthält: ‚Was ist Hysterie?'“ 23

In der unscharfen medizinischen Terminologie drückte sich aus, dass die Symptombeschreibungen selbst Formprobleme hatten. Auf Diffuses reagierten die Ärzte wieder mit Diffusität. 24

In der Retrospektive beschrieb der ehemalige Militärpsychiater Ferdinand Kehrer 1924 einige der ‚Kuriositäten', die die Kriegszeit mit sich gebracht hatte:

„So hat Gaupp einmal ein halbes Dutzend Soldaten mit rechtwinklig abgebogenem Oberkörper und bis zum Boden herabfallenden Händen herumgehen sehen und Wagner v. Jauregg und Nonne sahen solche Patienten mit gleichzeitigem saltatorischem [sprunghaft-tänzerischen, J.B.K.] [sic] Reflexkrampf unter exzessivem Stöhnen und Jammern zeitweise in zusammengekauerter Stellung verharren. Andere konnten nur in Fechterstellung gehen oder zeigten alle Formen von Hüpfen und Tanzbewegungen. Westphal sah einen Kranken unter wunderlichen Extremitätenverdrehungen eine Art ‚Schuhplattler' ausführen. Liebermeister beobachtete wurmförmige Zwangsbewegungen der ganzen Körpermuskulatur und Jellinek hatte einen Patienten, der beim Aufstehen aus dem Bett mit krampfhaft ausgestreckten Beinen in großer Anfangsgeschwindigkeit auf dem Boden torpedoähnliche Bewegungen ausführte. Dub beschrieb einen Hysteriker, der unter Flügelschlagen der Arme Kontorsionen in Gestalt des Trommelns mit seitlich hüpfendem Gang vollführte. Padagogenähnliche [sic] Schüttelbewegungen des Kopfes und ruckendes Seitwärtsfliehen hat Mann beobachtet. [...] Levy sah Patienten, die im Sekundentempo ein Schnüffeln und Zittern der ganzen Bauchmuskulatur vollführten, während die Atmung unabhängig davon weiterging. [...] Patienten von Gaupp bellten und grunzten in einem fort.“ 25

Das Zitat ist nur ein Ausschnitt aus einer länglichen Ansammlung von Zitationen, die Kehrer aus der Forschungsliteratur seiner Arztkollegen collagierte. Hier wird die große rhetorische Energie offenbar, die diese dem Gesehenen entgegenhielten, wenngleich dieser Ausschnitt auch nachvollziehen lässt, warum Kehrer an gleicher Stelle auch von einer „Ermüdung“ der Militärmediziner angesichts einer solchen Fülle von Symptombildern sprach. Die Kehrersche Beschreibung bezog ihre Vokabeln aus Wortfeldern des Animalischen („wurmförmig“, „Schnüffeln“, „Flügelschlagen“, „bellen“, „grunzen“), des Kulturell-Theatralen („Schuhplattler“, „Tanzbewegungen“, „trommeln“), des Kampfsports („Fechterstellung“), des Kriegerischen („torpedoähnlich“), des Architektonischen („padagogenähnlich“) und des nonverbal Expressiven („jammern“, „stöhnen“). Ihre jeweilige Qualität und Stärke wird durch Adjektive wie „grotesk“ und „expressiv“ angezeigt. Neben dem hier präsentierten Ausschnitt fallen im weiteren Textverlauf außerdem die Worte „clownesk“, „infantilistische Faxenspezialität“, „Rülpskrämpfe“ und „Ohrfeigentic“. Ein misstrauischer Abstand zu den gesehenen Symptomen wird durch Begriffe wie „Karikatur“, „Kopie“, „Züchtungen“, „bizarr“, „exaltiert“ und „ausgefallen“ markiert. Diese sprachlich aufwendige Gestaltung war fester Bestandteil der militärärztlichen Darstellung des Kriegshysterikerproblems, wie aus zahlreichen Dokumenten hervorgeht. Auch schon während des Kriegs muss sie für die Militärärzte bei der Lektüre der Texte ihrer Fachkollegen auffällig gewesen sein. Vermutlich wurde diese Fachsprache angesichts der allgemein unklaren Einordnung und Bewertung der „Kriegshysterie“ aber nicht als verwunderlich, sondern als angemessen wahrgenommen.

Es soll hier jedoch kein erschöpfender Überblick über die disparaten Positionen versucht werden, da das Feld der Krankheitslehre, Diagnostizierung und Klassifikation von psychiatrischen Erkrankungen in dieser Zeitphase überaus komplex und mäandernd war. Die Erklärungs- und Diagnosemuster waren vielfältig und wiesen nicht selten terminologische Unschärfen auf. Ein damals gebräuchliches Formblatt mit dem Titel „Schema für Untersuchung von Nervenkrankheiten“ listete typische Symptome der „Kriegshysterie“ und der Neurasthenie auf: „Blindheit, Taubheit, Sitz-, Geh-, Steh- und Sprachstörungen, Zittern verschiedener Extremitäten in unterschiedlichen Stärkegeraden, wobei der Tremor bei der Untersuchung stärker wird, Dämmerzustände, Lähmungserscheinungen, Labilität der Stimmung, Suggestibilität und theatrales Gebaren, Fehlen des Rachen- und des Bindehautreflexes, Schlafanfälle, Krampfanfälle ohne völligen Bewusstseinsverlust, Kontrakturen, konzentrische Gesichtsfeldeinengung, Anästhesien“. 26

Auch in der Frage der Neuheit, Bekanntheit oder des historischen Gesichtswechsels der „Kriegshysterie“ bestand keine Einigkeit. Verschiedene zeitgenössische Mediziner betonten, dass grundsätzlich nicht die „hysterischen“ Symptome neu waren, sondern ihre massenhafte und vielgestaltige Form(-losigkeit). W. Mayer schrieb:

„Der Krieg - so wenig er uns grundsätzlich Neues brachte - hat die Zahl der Varianten ins Unendliche gesteigert.“27 Ernst Jolowicz, aus dem Korpsreservelazarett Posen, dagegen gehörte 1919 zu denjenigen, die deren Neuheit betonten. Zuvor hatte er die „Nervenfälle“ der Korpsnervenstation Posen ausgewertet - es handelte sich nach seinen Angaben um 5.455 Fälle:

„Das wohl von niemandem vor dem Kriege vorhergesehene enorme Überwiegen der funktionellen [gegenüber anderen, J.B.K.] Nervenerkrankungen ist wohl das ausgeprägteste Charakteristikum des Weltkrieges in der ganzen Kriegsmedizin, die Kriegsneurose fast das einzige Novum, aus dem wissenschaftlich, praktisch und theoretisch wertvolle Erkenntnisse zu ziehen sind.“ 28

Auch Otto Binswanger sprach von einer „Entfaltung der Kriegshysterie“, bei der „wohl fast alle Ärzte, auch diejenigen, die sich einer großen Kennerschaft und Erfahrung auf dem Gebiete der Hysterie rühmen durften, in manchem umlernen [mussten]; sie hatten ja an dem ganz anders gearteten Material der Friedenszeit gearbeitet“. 29

Aus einem Aufsatz von Kehrer, der im Anschluss an den Krieg entstand, geht hervor, dass die Militärmediziner die Mannigfaltigkeit der Symptombildungen ausdrücklich mit dem Phänomen und Theorem der „Masse“ in Verbindung brachten. Kehrer schrieb 1924:

„In einer Massenhaftigkeit, die trotz allen Formenreichtums der Bilder unser wissenschaftliches Interesse eher ermüdete, sind bei den Kriegsneurotikern die funktionellen Bewegungsstörungen hervorgetreten. Kaum eine Form der organischen Lähmungen und Reizerscheinungen ist als hysterische Kopie vermißt worden. [...] [D]ie Überschwänglichkeit der einzelnen Symptome ist von allen Seiten hervorgehoben worden.“ 30 Die „hysterischen“ Zeichen wurden von Militärmedizinern, wie die Kehrer-Quelle offenlegt, als „formenreich“, „ermüdend“, „überschwänglich“ und letztlich „rätselhaft“ 31wahrgenommen, obschon sie während des Weltkriegs immer wieder versuchten, sie nosologisch-rational zu organisieren und durch eine Vielzahl von Therapien, zum Beispiel spezielle Diäten, Isolations- oder Kaltwasserkuren, ‚Wortsuggestion', magische Bestreichungen, Hypnose oder Elektrotherapie zu bändigen. Die Vielgestalt der „Hysterie“ veranlasste die Militärmediziner dazu, immer neue Symptomatologien, Kataloge und Ordnungssysteme aufzustellen, die komplex genug sein sollten, um die vielen verschiedenen Symptombildungen und deren Abweichungen aufzunehmen. Da der „Kriegshysteriker“ die Militärmediziner offenbar in negativer Hinsicht faszinierte, wuchsen diese Kompendien der Diagnosen über die vier Jahre des Weltkriegs ins Unüberschaubare. Die Vielzahl, das Ausufernde und Unbestimmte der psychiatrischen Wissensbilder zur Kriegshysterikerfigur reflektierte die Diffusität der Krankheits(a)logik. Diese bot kein abgeschlossenes, erfassbares Krankheitsbild, keine reine Symptomerscheinung dar, sondern ein Gespinst aus unüberschaubar vielen Krankheitserscheinungen. So gewannen die wissenschaftlichen Ordnungsweisen der männlichen „Hysterie“ selbst die Qualität des Massenhaften. Auf symbolischer Ebene betrachtet glich sich die Militärmedizin durch eine strukturelle Hysterisierung ihres eigenen wissenschaftlichen Apparats in einigen Punkten an die selbsterschaffenen „hysterischen“ Krankheitsbilder an. Sie verlor den Abstand zu ihrem Untersuchungsobjekt, Forschersubjekt und Forschungsobjekt näherten sich einander an. Die immense Schrift-, Bild- und Filmproduktion - in Gang gesetzt, um die „Hysteriker“ zu domestizieren und wieder unter militärische Kontrolle zu bringen - schien das militärpsychiatrische System selbst mit „Hysterie“ zu affizieren. Denn die pluriforme Wissensproduktion brachte weniger neue Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand als ein selbst häufig theatrale Züge tragendes Begriffs-, Therapie- und Bildspektakel hervor. So wurde beispielsweise in der Behandlung der „Kriegshysteriker“ auf Methoden zurückgegriffen, die selbst in das Bedeutungsfeld der Hysterie oder Masse gehörten: wie (Wort-)Suggestion, Täuschung, Manipulation, charismatischer Schein, magische Bestreichungen oder Hypnose. 32Die Schleife des Bilder-Zeigens und Bilder-Interpretierens erschien endlos, wie Peter Riedesser und Axel Verderber 1996 beschreiben:

„Auf die epidemieartig anwachsenden, immer therapieresistenter werdenden und stets neue Symptomvarianten hervorbringende ‚Kriegsneurose' hatte die Psychiatrie mit immer drastischeren Folter- und Disziplinierungsmethoden geantwortet.“ 33

Die verschlungene militärärztliche Wahrnehmung und Behandlung dieses besonderen Patiententyps zeugte von einer Irritation standfester psychiatrischer Deutungen. Die Symptome performenden „Hysteriker“ schienen der bildordnenden Wissenschaft immer einen Schritt voraus: Die „hysterischen“ Männerkörper blieben in zahlreichen Fällen unlesbar. Strukturell betrachtet versagten diagnostische Sinnerzeugung, denn es gab immer einen semantischen und epistemischen Überschuss dieser Form männlicher „Hysterie“.

C Der Kriegshysteriker als Verkörperung der Masse im Heer

Die „Kriegshysterie“ hatte neben der Zahllosigkeit, Symptom- und Namensvielfalt auch noch weitere Schnittstellen mit dem Topos der Masse. Ihre Charakteristika wurden als nahezu deckungsgleich mit denen der vorrangig negativ besetzten „Masse“ beschrieben. In seinem Text „Über Hysterie“ von 1924 schrieb Stransky über die „Kriegshysteriker“:

„Die hysterische Persönlichkeit ist in diesem Sinne ein Tochtermycelium [fadenförmige Pilz- oder Bakteriumszellen, J.B.K.] des großen, von Alzheimer treffend so zubenannten Muttermycels der Entartung, aber sie kennzeichnet im Grunde eine bald mehr latente, bald mehr manifeste Zuständigkeit und, in den leichteren Graden wenigstens, noch nicht eigentlich eine Krankheits-, sondern eine - der femininen Normbreite zumal teilweise dicht benachbarten [sic] - Grenzzuständigkeit.“ 34

Im weiteren Textverlauf kommen neben „latent“, „feminin“ und „entartet“ folgende Worte vor, die die „hysterische Persönlichkeit“ umschreiben sollen: „panisch“, „simulantisch“, „lügnerisch“, „verweiblicht“, „intellektuell insuffizient“ und „ethisch minderwertig“. 35 Die ausdrücklichen Verweise auf das Dispositiv der Masse in diesen Beschreibungen belegen, dass seine (Be-)Deutungsgeschichte in Teilen immer mittransportiert wurde. Die Gruppe der „Kriegshysteriker“ wurde innerhalb des Heereskörpers als Masse angesehen und für den Kollektivkörper Heer als gefährlich erachtet. Wiederkehrende Diskursverbindungen zu stigmatisierenden Symbolfeldern, wie dem der Masse oder der Simulation, zementierten diese Angst vor Gefahr. Die „Hysteriker“ bildeten eine infektiöse Masse innerhalb der großen, zur Ordnung strebenden Masse oder besser: Korporation Heer, die deren Ambivalenzen sichtbar werden ließ. Während die Hysterikermasse als konturlos, überbordend, unkontrollierbar und gefährlich markiert wurde, schien der geformte, geführte und wohlstrukturierte Kollektivkörper Heer, der das Einzelindividuum einband, trug und unterstützte, als dessen ideales Gegenbild auf. In diesem Sinne stand die vielköpfige und -gliedrige, epidemieartige Krieghysterikermasse symbolisch für die Verwundbarkeit und Versehrbarkeit des Heereskörpers, dessen Geschlossenheit sie unterlief und zersetzte. Karl Bonhoeffer schrieb hierzu 1922:

„Die Affektspannung und damit die Suggestibilität bekommt eine sehr viel größere Intensität, nicht nur weil die Situation der Todesbedrohtheit ein starkes Mitschwingen der Vorstellung der Selbsterhaltung bedeutet, sondern vor allem, weil durch die Einordnung in die Disziplin und die Gebundenheit an bestimmte Aufgaben die Möglichkeit der Abreaktion, der Entspannung durch Handeln nicht wie dort zu jeder Zeit ohne weiteres gegeben ist. Die Praxis hat auch stets mit dieser Tatsache einer besonders erhöhten Suggestibilität an der Front gerechnet.“ 36

Die entscheidende Frage war deswegen, wie das Heer so geführt werden konnte, dass der Massencharakter berechenbar wurde. Da die „Kriegshysteriker“ die Gefahr verkörperten, das Heer in einen massenhaften Zustand umkippen zu lassen, erhielten sie selbst die Zuschreibungen der „Masse“. So schrieb Bonhoeffer weiter:

„Wenn man es zu Anfang des Krieges vorsichtig vermieden hat, Psychopathen an die Front zu schicken, so ist mit ein Grund der gewesen, dass man es vermeiden wollte, in die suggestible Massenstimmung psychisch-infektiöses Material hineinzubringen. [...] Der psychisch-körperlich Geschwächte ist der Suggestivwirkung der Masse besonders zugänglich.“ 37

Dieses Zitat spiegelt wider, dass das Heer immer schon als vor der Möglichkeit der Masse-Werdung stehend angesehen wurde. Nach dem Weltkrieg diskutierten die ehemaligen Militärärzte, ob die spezifische Situation des Kriegs neue Erkenntnisse über die Verbindung von Masse und Individuum liefern konnte. Da die Kriegsteilnehmer quasi einen auf Dauer geschalteten Massenzustand verkörperten, könnten sie sich ihm nicht entziehen, so dass schließlich der „Sonderwille des einzelnen“ schwinde. Nicht nur die Individuen innerhalb einer „Masse“ trugen die Merkmale des Massenhaften, ihr selbst wurde hier ein Eigenleben zugedacht. Als einer von vielen ging Bonhoeffer vom Entstehen einer „Massenpsyche“ oder „Kollektivseele“ aus:

„Die Eigenart des Krieges und vor allem der Feldverhältnisse bringt es mit sich, dass die Erlebnisse meist nicht nur ein Individuum, sondern einen Komplex von Menschen, oft große Menschenmassen zusammen betrafen. Die Erscheinung dieses Massengeschehens zeitigt durch die Rückwirkung der Massen auf das Individuum eigenartige Wirkungen (Schritt A), denen ein psychologisches und psychopathologisches Interesse innewohnt. Es kommt zur Entwicklung einer Art Massenpsyche. (Schritt B) Das zustande kommen [sic] einer solchen Kollektivseele ist - das hat der Krieg allenthalben bestätigt - abhängig von dem Vorhandensein einer Affektspannung innerhalb der durch ein Gemeinsamkeitsgefühl verbundenen Gemeinschaft.“ 38

Das Thema Massenpsyche bezog Bonhoeffer von den Massenpsychologen des 19. Jahrhunderts. So heißt es bei dem Kriminologen und Anthropologen Scipio Sighele:

„Die Sammelbezeichnung Masse deutet an, dass die einzelnen Persönlichkeiten, die an ihr teilnehmen, sich zu einer Persönlichkeit zusammendrängen und verschmelzen; man kommt also notwendigerweise dazu, in der Masse die Wirkung eines Etwas anzuerkennen, - wenn man es auch nicht erklären kann - das die Rolle eines gemeinsamen Denkens spielt. [...] [D]ie Seele der Masse. Wie kommt nun diese Seele der Masse zustande, was ruft sie hervor? Wie ist es zu erklären, dass ein Signal, ein Ruf, ein Schrei, den ein Einzelner von sich giebt, eine ganze Volksmenge fast unbewusst hinreisst und sie nicht selten zu furchtbaren Ausschreitungen verführt?“ 39

Die „Massenseele“, die für die äußere und innere Beweglichkeit der Masse sorge, kann Sighele zufolge gerade nicht als „geistige Kraft“ oder „Potenz“ angesprochen, sondern muss als „Affektspannung“ bezeichnet werden. Diese schwäche und hemme die Masse und sei für interne Suggestivwirkungen verantwortlich, wie Halluzinationen und Paniken, 40 die sich „lawinenartig“ ausbreiteten. Die „Massenseele“, so schrieb der Psychiater Anton 1918, sei eine

„Neuschöpfung wie ein Akkord beim Zusammenklang der Töne. Bei der Massenwirkung kommen Charaktermöglichkeiten zutage, welche vorher kaum vermutet wurden. Dies lehrt besonders die Geschichte der geistigen Epidemien.“ 41

Die Masse sei „mehr als die Summe ihrer Teile“ und zudem der Grund für „zügellose Ausbrüche der Leidenschaft“. Im Krieg wurde die Masse (der Kriegshysteriker) als (krankheits-)erregend imaginiert und bildete somit ein Gegenbild zum gesunden soldatischen Gemeinschaftskörper.

Walther Moede schrieb 1932 im Vorwort zur sechsten Auflage von Le Bons Psychologie der Massen zu Mustern von Kollektivität im „Volksheer“:

„Gewaltig und tief strahlt eine Erlebniswirkung von großen Massen aus. Die endlosen disziplinierten Bataillone eines Volksheeres, die vielleicht schweigend, vielleicht unter den Klängen rauschender Militärmusik, an ihrem Führer vorbeimarschieren, ihm Achtung und Verehrung zollend, sind lebende Wucht und gestalteter Geltungswille einer großen Gemeinschaft. Die suggestive Kraft der Massen auf den Führer und von dem Führer auf sie kann einen Machtrausch erzeugen, der Führer und Masse mit der elementaren Gewalt eines Naturereignisses auf ein Ziel hin losbrechen läßt, alle Hemmnisse überwindend: Gleich-Schreiten, Gleich-Fühlen, Gleich-Denken ist die Parole.“ 42

Das Bild, welches Moede von der Heeresmasse entwickelte, trägt zwei Facetten in sich: zum einen das Geordnetsein, die Disziplin und Stringenz des Heeres und zum anderen die überbordende, dynamische Kraft der „Masse“, die durch einen Führer geleitet werde. Gerade weil der Gemeinschaftskörper Heer beide Anteile als Möglichkeit in sich barg, wurden die bedrohlichen Aspekte auf die Figur des „Kriegshysterikers“ übertragen. Sie nahm genau diese negativen Stigmatisierungen und Konnotationen auf. Der individuelle Körper des „Kriegshysterikers“ wurde zum Träger des Massenhaften. Wie in den vorhergehenden Abschnitten zu sehen war, tauchte in den ärztlichen Wahrnehmungen der „Hysteriker“ dasjenige wieder auf, was die Theoretisierung der „Masse“ seit Ende des 19. Jahrhunderts aufgeworfen hatte. In den zeitgenössischen Texten findet sich diese Zuweisungsbatterie: Ich- oder Willensschwäche, Hang zur Degeneration, Suggestibilität, Affektibilität, Intellektgehemmtheit, Femininität et cetera. 43 In der militärischen Massenpsychologie zwischen 1914 und 1918 änderte sich die Verhandlung der Masseproblematik jedoch: Wurde der „Masse“ zwanzig Jahre zuvor eine besondere negative Wesensart zugewiesen, so sollten der kriegerischen Heeresmasse die zuvor von den Kriminalanthropologen ausgemachten Eigenheiten nun abtrainiert werden. ‚Gegen ihre Natur' sollte sie diszipliniert und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet werden. Sie durfte nicht mehr formlose „Masse“ sein, sondern sollte sich in Form eines geordneten Gemeinschaftskörpers präsentieren, der durchaus Emotionen haben durfte, aber bei dem die Gefühlsregungen ausschließlich der Bewältigung der kriegerischen Aufgabe dienen sollten. Es gehört zum Ton nachträglicher Selbsterhöhung und entsprach sicher nicht der Realität, wenn sich Ernst Jünger nach 1918 der (männer-)bündischen Qualitäten des soldatischen Gemeinschaftskörpers versicherte:

„Wir waren in den kurzen Wochen der Ausbildung zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle eine Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch.“ 44

Die Anwesenheit der „Kriegshysteriker“ gefährdete auch aus diesem Grund die militärischen Ordnungsprinzipien, denn die ‚Krankheit' betraf nicht nur den singulären Soldatenkörper, sondern die „Hysteriker“ bildeten eine unerwünschte „Masse“ innerhalb des strikt formierten Heereskörpers. Dass diese als ansteckend und „unwillig“ imaginiert wurde, belegt ein Zitat des Stabsarztes Oehmen von 1917. Er beobachtete, dass durch den Einfluss der „Hysteriker“ auf ihre Kameraden „ein übler Geist der Aufsässigkeit, eine von Mann zu Mann sich ausbreitende und lawinenartig sich steigernde Willensschwäche, ein Unwille [...] herrscht“. 45 Der angegriffene Wille, der angeblich durch „Renten“- und „Begehrensneurosen“ oder „Rententraumata“ fehlgeleitet war, 46 sollte möglichst rehabilitiert werden, wie der Nervenarzt Willy Hellpach, derzeit Chefarzt eines Reservelazaretts für Nervenkranke, konstatierte:

„Kein Wunder, daß die Anhänglichkeit ans Leben sich oft mit elementarer Gewalt in der Seele regt; daß in dem noch immer schwachen Körper der Entschluß, es abermals aufs Spiel zu setzen, mit jener Regung schwer zu kämpfen hat [...]. In dieser Zeit harrt des Arztes die schwierigste Aufgabe: die im besten Sinne militärärztliche - die Pflicht, den verwundeten oder erkrankten Soldaten nicht bloß individuell, sondern für die militärische Gemeinschaft wiederherzustellen, ihn nicht bloß genesen, sondern auch dienstfähig, was eben in entscheidendem Umfange gleichbedeutend ist mit dienstwillig, zu entlassen [Hervorhebungen im Original].“ 47

Die Wiederherstellung des Willens, wieder ins Feld zu gehen und gegebenenfalls sein Leben zu geben („unerbittliche Forderung der Lebensopferung“), sei die eigentliche „militärärztliche Kunst“ und „kriegsärztliche Aufgabe“. Der „Organismus einer Armee“ werde getragen durch „Heeresdisziplin“, die auch im Lazarett herrschen müsse - eine Mischung aus „dem Drang tätig und dem Drang frei zu sein“, um wieder „Kriegsbrauchbarkeit“ herzustellen. 48 Über das Wiedereinsetzen rekonvaleszenter „Hysteriker“ im Frontdienst bestand zu dieser Zeit jedoch kein Konsens. Da sie als gefährlich und belastend galten, wurden „Kriegshysteriker“ vielfach auch aus dem Frontdienst entlassen und als garnisons- oder arbeitsverwendungsfähig eingestuft.

II Kriegspsychologie

Zeitgleich florierte auch in einem anderen Wissenszweig der argumentative Konnex zum Dispositiv der Masse: in der Kriegspsychologie. 49 Das Gros dieser Studien war durchsetzt mit realitätsfernen und idealisierenden, ideologischen und patriotischen Schilderungen, von denen sich nur wenige Autoren ausdrücklich distanzierten. Im Dezember 1917 ordnete das deutsche Kriegsministerium an, psychologische Eignungstests als Teil der Diensttauglichkeitsprüfung standardmäßig einzuführen.50 Damit wurde die Verbindung von Experimentalpsychologie und Heerespsychotechnik, die sich mit der Auswahl, Berufseignung, Arbeitsplatzzuteilung und Optimierung der Leistungskraft einzelner Kriegsteilnehmer beschäftigte, konsolidiert. 51 Ein Teil des Untersuchungsfelds der psychologischen Kriegswissenschaft befasste sich mit der humantechnologischen Frage der Steuerung der Masse der Soldaten durch Offiziere und ihrer psychischen Aufstellung. Franz Janssen schrieb 1917:

„Aber wann wäre wieder eine solche Gelegenheit wie die gegenwärtige aufgerührte Zeit sie bietet, die Psyche der Massen zu beobachten und zu ihrer Kenntnis beizutragen! Denn nicht nur für Garnisons- und Friedenszwecke wäre eine Massenpsychologie im militärischen Sinne zu schreiben, weit dringender erzwingen andere Themen für den furchtbaren Ernst des Krieges baldige Behandlung: Die Psychologie der Führung, Begeisterung, Beeinflussung größerer und kleinerer Verbände im Felde, in den verschiedenen Lebenslagen des Marsches, der Ruhe, im Schützengraben, im Trommelfeuer, auf Patrouille, eine Psychologie des Angriffs, des Ausharrens, des Rückmarsches und vieles mehr.“ 52

Die Psychologie des Einzelnen - gekoppelt mit der Psychologie der „Masse“ beziehungsweise des Kollektivkörpers Heer - sollte dabei ermöglichen, eine militärische Massenpsychologie zu begründen, die potentiell alle dringlichen Probleme wie etwa das Führungsproblem oder Todesangst in den Griff bekam. Everth schrieb hierzu: „Die Vernichtung schwebt da draußen ständig über den so stark lebenden Menschen. Gerade da sie in manchem Betracht das Leben am kräftigsten empfinden, steht der Tod ihnen am nächsten“. Die Todesbereitschaft werde gesteigert, indem „man innerlich ganz in der Masse aufgeht, von ihr verschlungen, aber auch erhoben wird, so daß man Anteil gewinnt an dem Gesamtwert des Ganzen. Man geht eben schon vorher so in der Masse unter, daß man keine Regung verspürt, sich [vom Tod] auszunehmen“. Zugleich gelte jedoch: „Wenn man den Tod wagt, will man deshalb noch lange nicht sterben“. Das Sterben sei immer ein „Unglücksfall“. 53Eine solche Kriegspsychologie vermochte in den Augen ihrer Erfinder zum einen die Seele des Soldaten, die Individualpsyche, zu steuern und willenskräftiger, sprich effizienter zu machen. Turmlitz schrieb, dass „nur die Willenskraft das fast Menschenunmögliche möglich macht, daß alle Körperschaft zum leeren Schein wird, wenn nicht sie alles überwinden hilft“. Jener „Wille, der den erschöpfenden Körper aufreißt, wenn er zusammenzubrechen droht, der alles überwindet, bis er sein Ziel erreicht“. 54

Zum anderen sollten Offiziere zwecks besserer Führungsqualitäten massenpsychologisch geschult werden. Kriegspsychologen fragten: Wie verändert sich der Soldat unter den Kriegsbedingungen, in der kriegerischen Gruppe, im Trupp, im Bataillon et cetera - als Teil einer geordneten Massefiguration? Besitzt diese Massengestalt eine eigene Massenseele?

Ein vielzitiertes Beispiel für ein Amalgam aus praktischer Psychologie, Psychographie und militärstrategischem Denken ist die von den Experimentalpsychologen William Stern und Otto Lipmann initiierte Massenerhebung, in Form des umfangreichen und nach wenigen Wochen von der Zensur untersagten Frageschemas „Zur Psychographie des Kriegers“ von 1914/15, dessen Ergebnisse später von dem Veteranen und Psychologen Paul Plaut zweifach ausgewertet wurden. 55 Durch eine Evaluierung der Antworten der befragten Frontsoldaten sollten ungenutzte Persönlichkeitsbereiche und -ressourcen ausfindig gemacht und im Anschluss aktiviert werden. Stern und Lipmann nahmen die folgenden Fragen in ihr Frageschema auf: In der Rubrik „IV. Verhalten gegenüber den anderen Soldaten“, Unterpunkt: „Gegenüber Vorgesetzten“ fragten sie nach: „Treue, Verehrung, Aufopferung, Angst, Unterwürfigkeit, blinde[m] Gehorsam, Kritisieren, Lockerung der im Frieden geltenden Strenge der dienstlichen Verkehrsform. [...] Wirkung des Strafens und Anschnauzens auf die Untergebenen“. Und als Pendant dazu fragten sie nach dem Verhalten „[g]egenüber Untergebenen. Gefühl der stetigen Verantwortlichkeit und daß man Vorbild und Beispiel sein müsse. a) im Alltag, b) bei Gefahren, c) bei Strapazen und Entbehrungen. Wie wird dieses Beispiel-sein durchgeführt (Hinnahme der Gefahr, stramme Haltung, Draufgehen, Witzemachen usw.)? Fühlt man sich mehr als Kamerad oder als Vorgesetzter (Wertlegen auf richtige Ehrenbezeugung, korrekte Anrede)? Findet ein außerdienstlicher Verkehr zwischen Vorgesetzten und Untergebenen statt?“. 56 Die suggestiv gestellten Fragen und in Klammern beigefügten Beispielantworten zielten auf einen aus Sicht der Militärführung und Zensur empfindlichen Punkt: die tatsächlich gelebte Beziehung zwischen Offizieren und ihren Untergebenen, die hier als von Ambivalenzen und beidseitigen Verhaltensübertretungen durchsetzt vorgestellt wird. Die Führungskraft des Offiziers gegenüber den Soldaten wird weniger als gegeben, denn als bewegliche Größe vorgeführt.

Plauts Ausführungen, in denen er das Frageschema zusammen mit anderen Quellen retrospektiv auswertete, können eher als kritisch-reflektiertes und deswegen wenig repräsentatives Beispiel damaliger Kriegspsychologie angesehen werden. Ihn interessierte das subjektive Erleben des Frontsoldaten im Hinblick auf seine Beziehung zu der ihn umgebenden „kriegerischen Kollektivität“ der ‚Frontgemeinschaft'. Diese betrachtete er als künstliches Gebilde, das ein Gemeinschaftserlebnis schaffe. Getragen werde die Gemeinschaft von einer hohen „beruflichen Solidarität“ in Kleingruppen, was durch das Tragen von Uniform unterstrichen werde. 57 Durch die Gruppe entstehe eine Druckwirkung auf den Einzelnen, die zu einem Kameradschaftserleben führe, das durch hohe Fluktuation (Tote, Verwundete) gekennzeichnet sei. Anders als viele zeitgenössische Autoren distanzierte sich Plaut von idyllischen, idealistischen und heroisierenden Lesarten des Gemeinschaftserlebnisses Front. Vielmehr hob er, als „kollektives Gesetz“ der Kriegspsychologie, den „temporär-zwangsläufigen Charakter dieser Kollektivität“ hervor, die weniger durch eine - in Anlehnung an Le Bon vielfach beschworene - „Massenseele“, 58 denn durch Einsicht in die Notwendigkeit zu handeln, Pflichtbewusstsein, Verantwortungsgefühl sowie Drill und Disziplin zusammengehalten werde. 59 Er erblickte in der kriegerischen Gruppe eine „rationelle Größe“, eine temporäre Arbeitsgemeinschaft, die in ihrer Reaktions- und Handlungsbereitschaft nach kollektivpsychologischen Gesichtspunkten funktioniere. Dabei stellte Plaut wiederholt heraus, dass das Individuum, simultan zu seiner „elastischen“ Eingebundenheit ins Kollektiv, immer auch individuell reagiere und selbsterhaltend agiere. 60 Um das Dasein des Soldaten als Individuum und im Heereskollektiv im Verhältnis zu seinem Dasein als Massenwesen zu beschreiben, importierte der Kriegspsychologe, wie zeitgleich zahlreiche seiner Psychiater- und Psychologenkollegen, Denkfiguren und Leitmetaphern aus dem massenpsychologischen Diskurs vor der Jahrhundertwende. Plaut grenzte sich jedoch entschieden von einigen seiner Leitsätze ab und war bemüht, bestimmte Verführungs- und Verwerfungsrhetoriken massenpsychologischer Theoriedogmen mit logischen Argumenten auszuhebeln.

Das Gemeinschaftserleben der „soldatischen Masse“ als „zusammengefasste Vielheit“ entspringt bei Plaut also der vereinheitlichenden Uniform, Kameradschaft, dem Vaterlandsgedanken sowie Disziplin - „[A]lle Bewusstseinsmomente stehen unter ihrem Zwange, ebenso das ganze Gefühlsleben durch die sie ihren steten Akzent erhält“. Die Verbindung von Disziplin, Gebundenheit und zugleich Freiheit ließen ein „inneres Gefüge“ entstehen, das geprägt sei von der „Notwendigkeit vollster Kraftentfaltung“. 61 Anders als dies im literarischen und psychologischen Diskurs über den Ersten Weltkrieg üblich war, glaubte Plaut nicht an ein einheitliches Empfindungserleben bei Soldaten, bei zeitgleicher automatischer Verbrüderung, Solidarisierung und ‚Verbündelung' der Soldatenindividuen. Vielmehr träten Gegensätzlichkeiten und Reibungen noch stärker als im zivilen Leben in den Vordergrund. Plaut entwarf ein psychisches Bild des Soldaten, das im Fluss war. Er ging von einer beruflichen und nur temporären Solidarität aus, von keiner echten, selbst- und grenzenlosen Kameradschaft, sondern lediglich von einer flüchtigen „Kriegskameradschaft“. Den Gruppenführer dachte Plaut als Teil der „kriegerischen Gruppe“, der in bestimmten Momenten harmonisch in derselben aufgehen könne - kriegssituationsbedingt, etwa in der Gefahrenzone des Felds. Im gleichen Moment sorge er in befehlsmäßiger Spannung zur Gruppe jedoch auch für deren „Kollektivintensität“. 62 Eine ähnliche Facette hebt auch Christian Stachelbeck hervor, wenn er von einem „idealisierten Leitbild des militärischen Führers“ im Ersten Weltkrieg spricht, der „allumfassend kompetent, vorbildhaft und fürsorglich“ sein musste, um „durch sein persönliches ‚heldenhaftes' Beispiel das Herz und Vertrauen seiner Leute zu gewinnen“ und diese für den Kampf zu motivieren. 63

Plauts Umgang mit Theorien der Massenpsychologie war differenziert, denn er löste massenpsychologische Klischees in dialektische Bilder auf. Die verschiedenartigen kollektiven Heeresformationen fasste er als ein ‚Gegeneinander als Miteinander': Der große

„Heeresblock zersplittert in Millionen von Atomen die sich aneinander reiben, je nachdem sie Verschiedenheiten in Gefühl und Meinung und Weltanschauung in sich tragen; aber dadurch wird der Kampf der Geschlossenheit nicht herabgemindert, auch nicht zersplittert.“

Das Gemeinschaftserlebnis speise sich aus einer „Zusammenfassung aller psychischen und physischen Kräfte“. 64 Durch sein Atommodell trug Plaut sowohl eine Differenz zu Jüngers Vision des Heeres als soldatischem Gemeinschaftskörper ein: „Wir waren [...] zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen“, als auch zu massenpsychologischen Vorstellungen einer alles bestimmenden und den Einzelnen ausblendenden „Massenseele“. Plaut sah die „soldatische Masse“ in Abgrenzung hierzu als

„eine Vielheit von Einzelkämpfern um ein Einzelschicksal, um die Einzelpersönlichkeit. [...] Jeder wird zum Kämpfer, jeder zum bewußten um seine Persönlichkeit, jeder will frei sein oder frei werden, wenn das Ziel erreicht ist, weil er das Ziel selber ist. So faßt jeder auch seine ganze Kraft zusammen, reißt sich zusammen, filtriert seine Gefühle - er diszipliniert sich selber und fügt sich in das ganze disziplinierte Gebilde, in das er scheinbar nicht hineinpaßt, harmonisch ein“. 65

Das Seelenleben der Frontsoldaten hing laut Plaut von der Zwangssituation und dem jeweiligen Rang ab; es sei starken Schwankungen unterworfen und zugleich anpassungsorientiert gewesen. Obschon die psycho-physischen Modifikationen des Soldaten unter den Extrembedingungen des Kriegs als temporär angenommen werden, habe die Umorganisation auch Langzeiteffekte gehabt, die den Krieg überdauerten. Das Gemüt sei entwicklungsfähig 66und tendiere zu Objektivierung und Ernüchterung. 67Es funktioniere zwar als Teil einer „Massenpsyche“, sei jedoch nicht auf deren Eigenschaften begrenzt. Bei Plaut wird das Soldatenkollektiv als fluide, veränderliche, „künstlich zusammengefaßte psychische Menge“ charakterisiert, die sich am Ende des Weltkriegs vor psychischer und physischer Entkräftung auflöste. 68 Das Erlebnis des Kriegs wird als „ein Aggregat von zahllosen Substanzen“, als „buntfarbenes Mosaikgebilde“ gezeichnet.69 Es umfasse wechselseitige und gegensätzliche Aspekte sowie unbewusste und bewusste Vorstellungen. So sei es voll „Pflichtgefühl und Eigenbesinnung“, voll des „suggerierten Rauschs“ und zugleich „innerer Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit“. 70

Plaut grenzte sich mehrfach von der Psychoanalyse ab, so auch in seiner Einschätzung der Bedeutung des Gruppenführers. Obwohl er dessen Funktion wesentlich entemotionalisierter und nüchterner einschätzte, ist dem Text von 1928 die Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Ausführungen in Massenpsychologie und Ich-Analyse aus dem Jahr 1921 anzumerken. So nahm Plaut Freuds Thesen zur ambivalenten Stellung des Soldaten zwischen der Liebe zum Kollektiv und seiner Selbstliebe sowie der Relativierung des Gegensatzes von Individuum und Masse auf. Freud stellte in dieser Schrift auf Basis der spezifischen Eindrücke des Ersten Weltkriegs als in großen Teilen hochtechnisiertem Stellungskrieg die Frage, welche kollektivpsychologischen Faktoren den einzelnen, nicht selten traumatisierten Soldaten dazu bewegt hatten, immer wieder sein Leben opfern zu wollen oder zu opfern. Er suchte die seelische Verwandlung des Einzelnen in der Masse, der seinen Willen dem Willen der Nation respektive der Armee unterstellte, durch sein Libidomodell zu erklären. Dieses rückte die gefühlsmäßige Bindung des Einzelnen an die Gruppe in den Mittelpunkt. Ihn beschäftigte die Frage, wie es politischen Oberhäuptern oder militärischen Befehlshabern gelänge, Massenheere und ihre einzelnen Mitglieder zu führen.71 Der einzelne Teilnehmer der „künstlichen Masse“ Heer stehe zum einen unter äußerem Zwang und binde sich zum anderen libidinös an ein Oberhaupt, einen Feldherrn. Dessen (‚urhordenvaterähnliche') Liebe erfasse alle Mitglieder der Masse und binde sie auf diese Weise als quasifamiliäre, kameradschaftliche Einheit zusammen. Der die Masse formende Führer trete als Vorbild an die Stelle eigener Ich-Ideale. In der Liebe zu ihm werde auf einem Umweg die Selbstliebe befriedigt. Diese Liebesillusion und Verliebtheit sowie der Zwang, nicht auszutreten, eine die Massenmitglieder. 72 Freud deutete die Kriegsneurosen, die „die deutsche Armee zersetzten“, „großenteils als Protest des einzelnen gegen die ihm in der Armee zugemutete Rolle [...]“ und als Ergebnis „lieblose[r] Behandlung“ durch Vorgesetzte.73

Im Krieg bestehe eine gefühlsmäßige Ambivalenz, wodurch der Soldat in einen Interessenkonflikt gerate: seine narzisstische Selbstliebe und sein Selbsterhaltungstrieb kämpften mit der Liebe zum Kollektiv beziehungsweise der idealisierend-identifizierenden Bindung an dessen Führer. Und noch ein anderer Konflikt durchzöge das Individuum, der „Ich-Konflikt“ „zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten“. Akut werde er, „sobald dem Friedens-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr es Gefahr läuft, durch die Wagnisse seines neugebildeten parasitären Doppelgängers ums Leben gebracht zu werden“. Das „alte Ich schütze sich durch die Flucht in die traumatische Neurose gegen die Lebensgefahr [...]. Das Volksheer wäre also die Bedingung, der Nährboden der Kriegsneurose [...]“. 74

Mehrere Jahrzehnte später hob Elias Canetti erneut den homogenisierenden und rauschhaften Moment des Massenerlebnisses für ein Individuum hervor, bei dem dieses in einer scheinbar höheren Einheit aufgehe: „Solange der Krieg dauert, muß man Masse bleiben; und er ist zu Ende, sobald man es nicht mehr ist“. 75

Der Krieg als Massenerlebnis trage jedoch zur Selbst-Dezimierung der Massen bei. Elias Canetti formulierte dies wie folgt:

„Faßt man die beiden kriegsführenden Parteien zusammen ins Auge, so bietet der Krieg das Bild zweier doppelt verschränkter Massen. Ein möglichst großes Heer ist darauf aus, einen möglichst großen Haufen von toten Feinden zu bewirken. Von der Gegenseite gilt genau dasselbe. Die Verschränkung ergibt sich daraus, dass jeder Teilnehmer an einem Krieg immer zwei Massen zugleich angehört: Für seine eigenen Leute gehört er zur Zahl der lebenden Krieger; für den Gegner zur Zahl der potentiellen und wünschenswerten Toten.“ [Hervorhebungen im Original] 76

Übertragen auf den Masse-Kriegshysteriker-Kontext des Ersten Weltkriegs heißt dies, dass das kriegerische Interesse nicht nur auf den (nach Möglichkeit getöteten) Gegner gerichtet war. Vielmehr verlängerte sich der Kampf auch nach Innen - und zwar genau durch die Figur, die die Funktionalität, das heißt „Schlagkraft“ und letztlich „Tötungskraft“, der kriegerischen Auseinandersetzung scheinbar gefährdete: durch den soldatischen „Hysteriker“. „Hysteriker“ konnten nicht kämpfen, sie waren offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt. Gerade in ihrer Verweigerung verkörperten sie die illegitime Möglichkeit, das „kollektive Urteil“, das über sie alle gefällt worden war, den Tod, abzuwehren. Das Opfer, das nach Canetti möglichst in Gestalt des unsichtbaren Feindes auftreten und dessen Tod vor dem eigenen stattfinden soll, befand sich in den eigenen Reihen. Der „Kriegshysteriker“ verstieß gegen dieses ‚erste Gesetz des Krieges': sich in der Masse von der gegnerischen Masse töten zu lassen beziehungsweise selbst zu töten. Er war, ebenso wie Selbstverstümmler, Deserteure, Selbstmörder und Homosexuelle, eine Gestalt, die Abläufe im Militärkörper massiv störte. Im Sinne Canettis beendete er den Krieg vorzeitig, er behinderte die militärische Logik - Präparation, Angriff und das Zählen von Toten.

Conclusion

In diesem Aufsatz konnte das Zusammenwirken der Konzepte Masse und Kriegshysterie gezeigt werden, das sich - ausgehend von der theoretischen Verknüpfung von „Masse“ und „Hysterie“ vor 1900 - im Ersten Weltkrieg entfaltete. Der Protagonist dieser imaginativen Koppelung war der „Kriegshysteriker“, denn in seinen Symptomen schienen sich die negativen Auswirkungen der Masse zu materialisieren. Ein Effekt der Koppelung mit der „Masse“ war, dass die Massengestalt „Kriegshysteriker“ mit dem Formlosen und Nicht-Formbaren zusammengedacht wurde. Für die Militärärzte bestand das Problem darin, dass dem „kriegshysterischen“ Massenmenschen so leicht keine Richtung zu geben war. Und obwohl dies häufig anders suggeriert wurde, galten auch seine Symptome in zahlreichen Fällen als unheilbar und überdauerten das Kriegsende. Von der Militärpsychiatrie wurde die massenhaft auftretende Kriegshysterikergestalt so gedeutet, dass sie die strukturierte Form des Heeres angreifen und - durch ihre bloße Präsenz und ihren spezifischen Krankheitscharakter - in eine negativ konnotierte Massenformation umkippen lassen könne. Die dämonischen Aufladungen der Denkfigur Masse wurden auf das pathologische Objekt „Kriegshysteriker“ übertragen und als Negativbilder eingesetzt, um die militärische Ordnung und soldatische Idealbilder als gefährdet zu markieren. Der „Kriegshysteriker“ löste also in gewisser Weise die Figurprobleme der „Masse“, indem er zu ihrer symbolischen Trägergestalt avancierte. Sein Bedrohungspotenzial suchten die Militärmediziner mit ebenfalls massenweisen Diagnosebeschreibungen und Therapieansätzen zu parieren, die die Wissenschaft Medizin selbst diffus erscheinen ließen. Auf einer strukturellen Ebene begannen Militärpsychologie und -neurologie sich dem unförmigen Störungsbild der Hysteriepatienten tendenziell anzugleichen. Auch die Kriegspsychologie bediente sich der abwertenden symbolischen Aufladungen der Masse durch die Massenpsychologie um 1900. Ihr Ziel war es, die Negativwirkung des Massendaseins auf das Individuum abzuwehren, die positiven Kräfte der geführten „Masse“ jedoch nutzbar zu machen.

Die Diskurse der Militärpsychiatrie und Kriegspsychologie zielten darauf, den Kollektivkörper Heer indirekt zu stärken. Der kämpferische Soldat sollte in seiner Individualität der „Masse“ widersagen und bewusst zu einem Teil des Heereskörpers werden. Auf diese Weise sollte er der Gefahr einer äußeren Hysterisierung in der „Masse“ und einer inneren Hysterisierung in der „Kriegshysterie“ entgehen. Die Denkfiguren ‚gefürchtete hysterische Soldatenmasse' und ‚durch den Krieg erschütterte soldatische Hysteriker' verschwammen.

 

  • 1. Vgl. hierzu auch das Kapitel Kriegshysteriker und Masse in: Julia B. Köhne, Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens, 1914-1920, Husum 2009, S. 31-58.
  • 2. Z. B. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen [Psychologie des foules, 1895], Leipzig: Klinkhardt 1908; Scipio Sighele, Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen [La Folla Delinquente. Studio Di Psicologia Collettiva, 1891], Dresden/Leipzig 1897; Gabriel Tarde, Les crimes des foules. In: Actes du troisième congrès d'anthropologie criminelle (Etudes pénales et sociales), Lyon 1892, S. 73-90; ders., Foules et sectes au point de vue criminel. In: Revue des deux mondes, les Transformations du droit: Étude sociologique, 2. Aufl. Paris 1894 [1893], S. 349-87.
  • 3. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, Leipzig: Kröner 1932, S. 13 (ich zitiere im Folgenden aus dieser Ausgabe).
  • 4. Otto Binswanger, Die Kriegshysterie. In: Otto von Schjering (Hrsg.), Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Bd. 4: Geistes- und Nervenkrankheiten, Leipzig 1922, S. 45-67, hier: 45.
  • 5. Abhängig von der jeweiligen Nation und Quelle der Information werden in der heutigen Sekundärliteratur unterschiedliche Zahlen genannt: Hans-Georg Hofer spricht von „hunderttausenden“ (Hofer referiert hier auf Angaben des Militärgeschichtlichen Forschungsamts von 1997, wo von über 600.000 von „Kriegshysterie“ betroffenen Soldaten die Rede ist, vgl. Hans-Georg Hofer, Nerven-Korrekturen. Ärzte, Soldaten und die ‚Kriegsneurosen' im Ersten Weltkrieg. In: zeitgeschichte, 27 (2000) 4, S. 249-268, hier: S. 265. Dies betrifft zumindest einen einstelligen Prozentsatz der eingesetzten Millionenheere.). Ben Shephard kommt zu dem Ergebnis, dass „7-10 per cent of all officers and 3-4 per cent“ aller Ränge unter nervösen oder mentalen Zusammenbrüchen gelitten hätten (ders., A War of Nerves: Soldiers and Psychiatrists, 1914-1994, London 2000, S. 21). In anderen Quellen ist von einer sehr hohen Anzahl somatischer Manifestationen der „Hysterie“ die Rede, die beispielsweise im neurologischen Center in Tours beobachtet wurden, Maxime Laignel-Lavastine, 'Travaux des centres neurologiques militaires: Centre neurologique de la Ixe région (Tours)'. In: Revue neurologique 28 (1914-1915), S. 1165. Auch Marc Roudebush trägt historische und aktuelle Angaben zur -- an den verschiedenen Fronten -- wachsenden Anzahl mental verletzter Soldaten zusammen (ders, A Battle of Nerves: Hysteria and Its Treatments in France During World War I. In: Paul Lerner/Mark S. Micale (Hrsg.), Traumatic Pasts: History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870-1930, Cambridge 2001, S. 253-155, besonders S. 254).
  • 6. Heinrich Stern, Die hysterischen Bewegungsstörungen als Massenerscheinungen im Kriege, ihre Entstehung und Prognose. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien, 39 (1918) 4, S. 246-281; Bestand des Sanitätskorps XIV. Armeekorps, Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe GLA 456/F1/119. In dieser Schrift an den Chef des Feldsanitätswesens beim Oberbefehlshaber Ost und sämtliche diesem im Großen Hauptquartier unterstellten Armeeärzte (Nr. 16200.17 vom 30.6.1917) ist ausdrücklich von einem „Mangel an Ärzten“ die Rede, der durch eine „Vereinfachung und Beschleunigung“ des Austauschs von Personal des Operationsheeres und der Etappe sowie durch Personal anderer Provenienz behoben werden sollte.
  • 7. Julius Wagner-Jauregg, Kriegsneurologisches und Kriegspsychiatrisches. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 68 (1918) 48, S. 1877-1884.
  • 8. Hans Toepel, Über die Häufigkeit geistiger Erkrankungen vor und nach dem Kriege. In: Karl Bonhoeffer (Hrsg.), Monatsschrift fuer Psychiatrie und Neurologie, Bd. 49 (1921), S. 337.
  • 9. Ernst Jolowicz, Statistik über 5455 organische und funktionelle Nervenerkrankungen im Kriege. Gesichtet nach Truppenteilen, Dienstgraden, Alter, Dienstzeit, Nationalität und Berufen. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien 52 (1919), S. 147.
  • 10. Bestand des Sanitätskorps XIV. Armeekorps, GLA 456/F1/118. „Bericht des Stabsarztes der Reserve Prof. Dr. Berger“ vom 16.7.1915, S. 1-11, hier S. 6.
  • 11. Siehe Bestand des Sanitätskorps XIV. Armeekorps, GLA F113/94.
  • 12. Alexander Pilez, Einige Ergebnisse eines Vergleiches zwischen einem psychiatrischen Materiale der Friedens- und Kriegsverhältnisse. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien 52 (1919), S. 227-240, 390-395, hier: S. 237.
  • 13. A. H. Hübner, Versuche und Beobachtungen zur Simulationsfrage. In: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 60 (1918), S. 125-153, hier: S. 126.
  • 14. Die ersten vier Vokabeln tauchen auf bei Ferdinand Kehrer, Spezielle Symptomatologie der Hysterie und Neurasthenie. In: Max Lewandowsky/Oswald Bumke/Otfrid Foerster (Hrsg.), Handbuch der Neurologie, Berlin 1924, S. 72-258, hier: S. 144.
  • 15. Konrad Alt, Über die Kur- und Bäderfürsorge für nervenkranke Krieger mit besonderer Berücksichtigung der sogenannten Kriegsneurotiker. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 19 (1918), S. 844-850, hier: S. 846.
  • 16. Bresler, Seelenkundliches. [Fortsetzung] Hysterie ohne Ende. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 20 (1919) 41/42, S. 262-267, hier: S. 263.
  • 17. Die Begriffe „Kriegsneurose“ und „Kriegshysterie“ wurden beispielsweise auf der Tagung Deutscher Nervenärzte in München 1916 synonym verwendet, ebenso 1918 von Ernst Simmel und auf der V. Internationalen Psychoanalytischen Tagung in Budapest sowie von Julius Wagner-Jauregg in Wien 1920. Siehe Elisabeth Malleier, Formen männlicher Hysterie. Die Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg. In: Elisabeth Mixa u. a. (Hrsg.), Körper -- Geschlecht -- Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin, Innsbruck/Wien 1996, S. 147-163, hier: S. 150.
  • 18. Kurt Singer, Allgemeines zur Frage der Simulation. In: Würzburger Abhandlungen aus dem Gebiet der praktischen Medizin 16 (1916) 6, S. S. 139-156, hier: S. 139f.
  • 19. Zur neueren Betrachtung der chronischen Beschäftigung westlicher Intellektueller mit der „Hysterie“ und deren Imaginationen -- auf medizinischer und theoretischer Ebene -- siehe Mark S. Micale, Approaching Hysteria. Disease and Interpretation, Princeton 1995. Micale spricht angesichts der weiter anwachsenden Anzahl von Publikationen zu verschiedenen Phasen der historischen Hysterieforschung von „New Hysteria Studies“.
  • 20. Zitiert nach Antoine Porot, Manuel Alphabétique de Psychiatrie, Paris 1965, S. 279, dies wiederum zitiert nach Christina von Braun, Nicht ich. Logik -- Lüge -- Libido, Frankfurt am Main 1994 [1985], S. 28.
  • 21. Oswald Bumke, Die Pupillenstörungen bei Geistes- und Nervenkranken, Jena 1904, S. 212.
  • 22. J. Bresler, Seelenkundliches. [Fortsetzung] Hysterie ohne Ende. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 20 (1919) 41/42, S. 262.
  • 23. Erwin Stransky, Über Hysterie. In: Wiener medizinische Wochenschrift 9 (1924), S. 435-439, hier: S. 435.
  • 24. James Lewin, Das Hysterie-Problem. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 48 (1920), S. 204-226, hier: S. 226: Lewin spricht von „mannigfachen Kombinationstypen der hysterischen Reaktionen“, von „Verzerrungen, Verwischungen und Übergängen zu anderen Reaktionstypen“.
  • 25. Kehrer, Spezielle Symptomatologie der Hysterie und Neurasthenie, S. 144f.
  • 26. Das Zitat aus dem „Schema für Untersuchung von Nervenkrankheiten“ stammt aus dem Karlsruher Aktenbestand des Generallandesarchivs und betrifft Akten des 14. Armeekorps, hier: GLA 456/F1/118. Das Formblatt ist nicht datiert; es ist aber sicher, dass es während des Ersten Weltkrieges verwendet wurde, da es sich in den Beständen des Armeekorps befand. Die oben aufgeführten Begriffe werden allein in dieser einen Quelle genannt.
  • 27. W. Mayer, Über Simulation und Hysterie. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien 39 (1918) 4/5, S. 315-328, hier: S. 317.
  • 28. Ernst Jolowicz, Statistik über 5455 organische und funktionelle Nervenerkrankungen im Kriege. Gesichtet nach Truppenteilen, Dienstgraden, Alter, Dienstzeit, Nationalität und Berufen. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie/Originalien 25 (1919), S. 129-144, hier: S. 147.
  • 29. Binswanger, Die Kriegshysterie, S. 45.
  • 30. Kehrer, Spezielle Symptomatologie der Hysterie und Neurasthenie, S. 144.
  • 31. Lewin, Das Hysterie-Problem, S. 204-226, hier: S. 214: „Daß und warum eine leichte Verletzung zu einer Lähmung und Anästhesie des betreffenden Gliedes führt oder Schreck und Erschütterung bei Explosionen zu Taubheit, Stummheit oder sonstigen Lähmungen, ist eine rätselhafter Vorgang, der tief in das Problem der Beziehungen des Physischen und Psychischen hineinreicht“.
  • 32. Nachvollziehbar wird dies, wenn man die Bildsprache der wissenschaftlichen Kriegshysteriker-Kinematographie, 1916-1918, untersucht: Köhne, Kriegshysteriker, S. 179-242, besonders ab S. 192 bzw. S. 200.
  • 33. Peter Riedesser/Axel Verderber, ‚Maschinengewehre hinter der Front'. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt am Main 1996, S. 75.
  • 34. Stransky, Über Hysterie, S. 435-438.
  • 35. Ebd.
  • 36. Karl Bonhoeffer, Über die Bedeutung der Kriegserfahrungen für die allgemeine Psychopathologie und Ätiologie der Geisteskrankheiten. In: Schjering (Hrsg.), Handbuch der ärztlichen Erfahrungen, S. 3-44, hier: S. 10.
  • 37. Ebd., S. 10.
  • 38. Ebd., S. 8.
  • 39. Scipio Sighele, Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen [La Folla Delinquente. Studio Di Psicologia Collettiva, 1891], Dresden/Leipzig 1897, S. 44f.
  • 40. Zu ansteckender Panik und Affektsteigerung siehe auch: William McDougall, The Group Mind, Cambridge 1920. Wie eng die Koppelung von „Panik“ und „Masse“ auch heute noch ist, zeigt Susanne Weingarten, Schnell raus hier! Panikforscher lösen ein drängendes Problem der Menschheit. In: Süddeutsche Zeitung Magazin 2003 Nr. 33, S. 5-8.
  • 41. Deutscher Verein für Psychiatrie/Verhandlungen psychiatrischer Vereine, Geistige Wechselwirkung im menschlichen Verkehr und Psychologie der Masse (Vortrag von Anton aus Halle). In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 74 (1918), S. 622-628, hier: S. 623f.
  • 42. Walther Moede, Zur Einführung. In: Le Bon, Psychologie der Massen, S. V.
  • 43. Köhne, Kriegshysteriker, S. 31-58.
  • 44. Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 1990 [1920]. S. 5. Siehe hierzu auch Barbara Ehrenreich, Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, München 1997.
  • 45. Oehmen, Heilung der hysterischen Erscheinungen in Wachsuggestion. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift. Mit Berücksichtigung der wirtschaftlichen und Standesinteressen der Aertze, Bd. 43, Nr. 15, Berlin 1917, S. 463-466, hier: S. 464.
  • 46. Vgl. z. B. u. a. die Begrifflichkeit „Renten-Traumatiker“ in diesem Krankenblatt: Bestand des Sanitätskorps XIV. Armeekorps, GLA 456/F113/94.
  • 47. Willy Hellpach, Lazarettdisziplin als Heilfaktor. In: Medizinische Klinik. Wochenschrift für Aerzte. Sonderabdruck. Bd. 11 (1915), Nr. 44, Berlin, S. 3-12, hier: S. 4.
  • 48. Ebd., S. 5-9, 12.
  • 49. Zu diesem Forschungsfeld gehören: Otto Binswanger, Die seelischen Wirkungen des Krieges, Stuttgart/Berlin 1914; August Messer, Zur Psychologie des Krieges, Berlin 1915; Otto Turmlitz, Psychologisches-pädagogisches aus dem Schützengraben, o.O. 1915, S. 83-87; Rudolf Zentgraf, Der Soldat, ein Versuch zur Militärpsychologie, Leipzig 1915; Max Dessoir, Kriegspsychologische Betrachtungen, Leipzig 1916; Robert Sommer, Krieg und Seelenleben, Gießen/Leipzig 1916; Wilhelm Stekel, Unser Seelenleben im Kriege. Psychologische Beratungen eines Nervenarztes, Hamburg 1916; Kurt Lewin, Kriegslandschaft. In: Zeitschrift für angewandte Psychologie (Bd. 12, Leipzig 1917, S. 440-447); Erich Everth, Von der Seele des Soldaten im Felde. Bemerkungen eines Kriegsteilnehmers, Jena 1915; Ph. Stein, Der Soldat im Stellungskampf. Psychologisch-militärische Betrachtungen in Anlehnung an Erich Everths „Die Seele des Soldaten im Felde“, Berlin 1917.
  • 50. Ulfried Geuter, Polemos panton pater -- Militär und Psychologie im Deutschen Reich 1914-1945. In: ders./Mitchell G. Ash, Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985, S. 146-171, hier: S. 149f.
  • 51. Franz Janssen, Psychologie und Militär. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 18 (1917) 2, S. 97-109.
  • 52. Ebd., S. 108.
  • 53. Everth, Von der Seele des Soldaten im Felde, S. 34, 40, 42.
  • 54. Turmlitz, Psychologisches-pädagogisches aus dem Schützengraben, S. 84, 86.
  • 55. Paul Plaut, Psychographie des Kriegers. In: Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, Bd. 21, Leipzig 1920, S. 1-123; Frageschema „Zur Psychographie des Kriegers“ von William Stern und Otto Lipmann, hier: S. 111-118; ders., Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie. In: Emil Abderhalden (Hrsg.), Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. 6: Methoden der experimentellen Psychologie, Teil C/1, Berlin/Wien 1928, S. 621-687. Siehe hierzu auch ausführlicher: Julia B. Köhne, Papierne Psychen. Zur Psychographie des Frontsoldaten nach Paul Plaut. In: Dies./Ulrike Heikaus: Krieg! Juden zwischen den Fronten, 1914--1918, Berlin 2014, S. 67-104.
  • 56. Stern/Lipmann: Frageschema „Zur Psychographie des Kriegers“, S. 113-115.
  • 57. Plaut, Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie, S. 666f.
  • 58. Le Bon, Psychologie der Massen, S. 12. Er portraitierte die „Masse“ als Ansammlung von Individuen mit einer Kollektivpsyche. Diese anthropomorphisierende Betrachtungsweise der Gemeinschaft analogisiert sie mit einem menschlichen Organismus. Die dem vielköpfigen Individuum zugedachte Seele, die „Massenseele“, ließ ihre Glieder angeblich nach ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Die Masse neige zu Erregung, Nervosität und Hysterie. Sie sei impulsiv, leicht irritierbar und konturlos.
  • 59. Plaut, Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie, S. 667f.
  • 60. Ebd., S. 669.
  • 61. Plaut, Paul, Psychographie des Kriegers, S. 91f.
  • 62. Plaut, Prinzipien und Methoden der Kriegspsychologie, S. 670-674.
  • 63. Christian Stachelbeck, Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg. Die 11. Bayerische Infanteriedivision 1915 bis 1918, Paderborn u. a. 2010, bes. S. 294-322. Vgl. auch S. 299 und 301 zum Thema „Aspekte der inneren Truppenentwicklung“: „Führer und Geführte [traten] im Verlauf des Krieges in eine zunehmende wechselseitige Abhängigkeit, in der sich charismatisches Führertum und freiwillige Gefolgschaft der Untergebenen an der Front verbinden sollten. Letztere genossen im Frontbereich eben nur diejenigen Führer [...], die [sich] durch persönliches unerschrockenes Beispiel, gerechte Behandlung -- Wohlwollen und Strenge -- Gefechtserfolg und Kampferfahrung“ hervortaten.
  • 64. Plaut, Psychographie des Kriegers, S. 92, 96.
  • 65. Ebd., S. 93.
  • 66. Ebd., S. 59.
  • 67. Zu einem ähnlichen Themenfeld, soldatischer Resilienz, siehe Alexander Watson, Enduring the Great War: Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914-1918, Cambridge/New York 2008 und Christoph Nübel, Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2014.
  • 68. Plaut, Psychographie des Kriegers, S. 110.
  • 69. Ebd., S. 95.
  • 70. Ebd., S. 110.
  • 71. Alexander Meschnig, Der Wille zur Bewegung: militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus, Bielefeld 2008, S. 249-252.
  • 72. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921]. In: ders., Die Zukunft einer Illusion, eingeleitet v. Reimut Reiche, Frankfurt am Main 2000 [1993], S. 33-105, hier S. 73-76.
  • 73. Ebd., S. 58.
  • 74. Sigmund Freud, Einleitung zu Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. In: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Vorreden, Bd. 12 (Leibzig 1919), S. 321-324, S. 323. Stekel hatte 1916 einen ähnlichen Konflikt zwischen Ich und Kultur skizziert, er sprach davon, dass Nervöse ihr „Ichtheater“ vernachlässigen sollten, um dem „gewaltige[n] Welttheater“, das im Krieg „alle Affekte gewaltsam und unwiderstehlich auf sich“ ziehe, Platz zu machen, ders., Unser Seelenleben im Kriege, S. 9.
  • 75. Elias Canetti, Masse und Macht, 26. Aufl., Frankfurt am Main 2000 [1960], S. 81.
  • 76. Ebd., S. 84.
Das Bild zeigt: Die diffuse Ausbreitung der Hysterie
Das Bild zeigt: Quartett von hysterische Bewegungsstörungen: der kranke und der geheilte Patient (1918)