Wie die Bundeswehr auf den Hund gekommen ist
Heiner Möllers
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
26. Juni 2017
DOI: 
10.15500/akm.26.06.2017

Ausgangslage

Die Gründerväter der Bundeswehr schrieben 1950 in das Dokument der Himmeroder Konferenz hinein, „daß ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundlegend Neues zu schaffen ist“.1 Und weiter schrieben sie:

„Der Soldat des deutschen Kontingents verteidigt zugleich Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit. Diese Werte sind für ihn unabdingbar. Die Verpflichtung Europas gegenüber, in dem diese Ideale entstanden sind, überdeckt alle traditionellen nationalen Bindungen. Namen und Symbole sind darauf abzustimmen.“

Damit umrissen die damals beteiligten ehemaligen Wehrmachtoffiziere ein in der deutschen Militärgeschichte neuartiges berufliches Selbstverständnis für die künftigen Streitkräfte in der Demokratie. Selbstverständlich musste dieses nach Beginn des Aufbaus der Bundeswehr erst noch ausgestaltet werden.

Ein sehr plakatives Feld, auf dem sich dieses neue Berufsverständnis noch Bahn brechen musste, waren die Kasernennamen. Die Bundeswehr hatte 1989 mehr als 500 Kasernen und Liegenschaften, dazu zahlreiche Schiffe und Boote der Marine sowie einige Namen für Verbände. Hierbei ist heute nicht nur von Interesse, wieso es eine nach dem 23-jährigen Jagdflieger Hauptmann Hans-Joachim Marseille, dem „Stern von Afrika“, dem hoch dekorierten Nachtjagdpiloten Oberst Helmut Lent oder dem mit dem Ritterkreuz ausgezeichneten Panzerabwehrkanonenführer Feldwebel Dietrich Linienthal – wer kennt den eigentlich? – benannte Kasernen gibt, sondern auch, wie diese und andere Einrichtungen zu ihren Namen kamen. Und noch mehr muss man fragen, was die Bundeswehr – vereinfacht gesprochen für das Bundesverteidigungsministerium, die Führungen der Streitkräfte oder auch die Truppe an sich – mit diesen Namen für die Armee der Inneren Führung ausdrücken will.

 

Namensgebung in der Bundeswehr ab 1956

Als die Bundeswehr ab dem Jahr 1956 entstand und nach und nach alte Kasernen von den Alliierten übernahm oder neu errichtete, bekam jede einen Namen. Bei den „Altbauten“ war das Procedere denkbar einfach: Vielfach erhielten sie denjenigen Namen (zurück), den sie bereits vor 1945 besessen hatten. Eine [Generalfeldmarschall August von] Mackensen-Kaserne in Bad Bergzabern war ebenso darunter wie die [General Konrad] Krafft von Dellmensingen-Kaserne in Garmisch-Partenkirchen. Auch die von der Royal Navy übernommenen ersten Schulfregatten der Marine erhielten früher mehrfach verwendete Namen deutscher Marineoffiziere wie [Admiral Franz von] Hipper und [Vizeadmiral Maximilian von] Spee. Nach beiden hatte die Kriegsmarine bereits Großkampfschiffe benannt. Der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Josef Kammhuber, benannte am 43. Todestag des „Roten Barons“ 21. April 1961 in Ahlhorn die ersten Traditionsgeschwader nach Manfred Freiherr von Richthofen, Max Immelmann und Oswald Boelcke. Diese drei waren im Ersten Weltkrieg gefallene Fliegerhelden und im Zweiten Weltkrieg ebenfalls schon Namensgeber früherer Geschwader.

Von dem Anspruch, den die Himmeroder Gründerväter noch formuliert hatten, war bei solchen Namen nichts zu spüren. Dennoch wäre es zu einfach, hier sprichwörtlich alles über einen Kamm zu scheren: In der Amtszeit des zweiten Bundesverteidigungsministers, Franz Josef Strauß (CSU, 1956-62), kam es zwar zu zahlreichen Kasernenübernahmen inklusive der Weiterführung ihrer früheren Namen. Dennoch setzte gerade dieser Minister am 20. Juli 1961 einen Kontrapunkt: Er benannte die Kasernen in Oldenburg, Sigmaringen, Augustdorf, Husum und Donauwörth nach Henning von Treskow, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Erwin Rommel, dem sozialdemokratischen Politiker Julius Leber und dem Jesuitenpater Alfred Delp. Sie alle wurden (damals) dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zugerechnet, der 17 Jahre zuvor als letztes Fanal den Staatstreich gegen Hitler versucht hatte. – Später wurden Kasernen in Großengstingen 1965 nach Oberst Eberhard Finkh, in Pöcking 1964 nach General der Nachrichtentruppe Hermann Fellgiebel sowie in Euskirchen 1981 nach Generalmajor Rudolf Christoph Freiherr von Gersdorff sowie in Grafschaft 2009 nach Philipp Freiherr von Boeselager benannt. Sie alle gehörten zweifellos dem militärischen Widerstand an. Schon 1956 hatte zudem die ehemalige NS-Ordensburg in Sonthofen auf Initiative von Bundeskanzler Konrad Adenauer den Namen Generaloberst-Beck-Kaserne erhalten.

Da zu Kasernenbenennungen in der Bundeswehr außer den einschlägigen, wenngleich teils polemischen Werken von Ralph Giordano, Jakob Knab und Donald Abenheim kaum umfassende, das Thema bearbeitende Literatur existiert2, muss man bislang annehmen, dass es gegen solcherlei Benennungen keinerlei Widerstand oder Widerspruch gab. Dies verwundert nicht. In den ersten Jahren wuchs die Bundeswehr sehr langsam an. Zwar gab es bereits ab 1957 die Wehrpflicht, aber viele Kasernenneubauten waren noch gar nicht bezogen und die alten hatten ihre früheren Namen ohne irgendwelche Zeremonielle wieder bekommen.3

Diese Benennungen liefen damit vermutlich weitgehend an der Öffentlichkeit vorbei. Der frühere umfassende Protest gegen die westdeutsche Aufrüstung gerade durch die Ohne-Mich-Bewegung konnte die Namen offenkundig nicht verhindern. Der überwiegende Teil der westdeutschen Gesellschaft schien ohnehin mit dem Wirtschaftswunder und der eigenen Prosperität mehr befasst gewesen zu sein, als den zuvor vollzogenen Schlussstrich unter den letzten Krieg noch einmal zu hinterfragen. Selbst die jüngst edierten Protokolle des Verteidigungsausschusses lassen nicht erkennen, dass dessen Politiker beim Aufbau der Bundeswehr und ihrer Einpassung in den demokratischen Rechtsstaat auf dieses Thema viel Mühe verwendet hätten.

Kurzum: Kasernennamen in der Bundeswehr haben damals scheinbar kaum jemanden aufregen können. Der Protest der Ohne-Mich-Bewegung wie auch später die 68er-Bewegung blieben für die Namensgebung ohne Folgen. Ganz im Gegenteil: Die Rückkehr zu den alten Helden schien nicht nur im Militär vielerorts genehm, weil sie viel mehr mit einer militärischen Liegenschaft und deren positiven Folgen für die lokale Wirtschaft verbunden war. Damit besitzt die Namensgebung der Jahre 1956-60 zwar vordergründig vielleicht keine restaurativen Züge, fraglos aber haben sich viele Bundessoldaten gerne nach rückwärts erinnert.

Zwar hat das Bundesverteidigungsministerium bereits 1957 ein Benennungsverfahren etabliert, dass in den Grundzügen bis heute Gültigkeit hat: Der Name soll von der betroffenen Truppe vorgeschlagen und dann auf dem Dienstweg dem Minister zur Genehmigung vorgelegt werden. Doch bis heute lässt sich an den überlieferten Unterlagen im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg bei keinem Namensgebungsfall nachweisen, ob und inwieweit die betroffene Truppe beteiligt war.

Mit Beginn der Amtszeit von Kai-Uwe von Hassel als Verteidigungsminister (CDU, 1963-66) änderte sich einiges in der Namensgebungspraxis: Der in Tansania geborene Sohn eines ehemaligen Offiziers der kaiserlichen Kolonialtruppen besaß eine deutlich andere Affinität, ja sogar Anhänglichkeit zum Militär, als sein Vorgänger. Er wies 1964 an, dass neue Kasernen mit feierlichen Appellen in Betrieb zu nehmen und dabei auch die Namensgeber vorzustellen seien! Zahlreiche Märsche der Truppe durch die Garnisonen, Blasmusik vorweg, dokumentierten in Lokalzeitungen diese Aufbauphase. Die Bundeswehr versteckte sich nicht. Und zu solchen Zeremoniellen gab es ab 1963 zahlreiche Gelegenheit: Wulf Isebrand, ein Dithmarscher Volksheld aus dem 15. Jahrhundert, wurde in Heide und St. Barbara, die Schutzheilige der Artilleristen, in Dülmen gewürdigt. Neben solchen politisch kaum angreifbaren Namen gab es viele Namensgeber, die als Soldaten in der Wehrmacht häufig bis zum letzten Kriegstag oder dem eigenen Tod gedient hatten. Die Reden, oftmals von Kriegskameraden oder ranghohen Generalen der jungen Bundeswehr gehalten, betonten immer wieder die vorbildlich soldatische Leistung des so Geehrten. Unter ihnen fanden sich nicht nur Generaloberst Eduard Dietl, der „Held von Narvik“ (1964 in Füssen), sondern auch der als Kriegsverbrecher verurteilte Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb (1965 in Landsberg/Lech) und Oberst Helmut Lent, einer der erfolgreichsten Nachtjäger der Luftwaffe (1965 in Rotenburg/Wümme). Hinzu kam Hans Graf von Sponeck, der zwar nach dem 20. Juli 1944 auf Himmlers Befehl hin erschossen wurde, aber keinen Bezug zum Widerstand hatte (1966 in Germersheim). Ergänzt wurde dieses Potpourri um Personen aus anderen Epochen und weitere Wehrmachtgenerale. Werner Freiherr von Fritsch beispielsweise, der 1938 in einer Affäre gestürzt wurde, war gleich mehrfach Namensgeber (Celle, Hannover, Itzehoe, Koblenz, Pfullendorf), wie auch Paul von Hindenburg. Mehrfach benamt wurde auch nach Gerhard von Scharnhorst, Fürst Blücher, aber nur einmal nach Reichspräsident Friedrich Ebert, 1965 in Hamburg.

Ohne Frage hatten die ehemaligen Soldaten – und im Übrigen viele andere so gewürdigte Soldaten – genuin militärische Verdienste, die in ihrer Zeit bedeutsam gewesen sein mögen. Doch es fragte in Hassels Amtszeit und der seines Nachfolgers Gerhard Schröder (CDU, 1966-69) offensichtlich niemand nach der Rolle der Wehrmacht im nationalsozialistischen Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg, der ganz Europa mehr als fünf Jahre lang schwer geschunden hatte. Schließlich war auch die Militärgeschichtsschreibung noch von den Memoiren à la „Verlorene Siege“ (Generalfeldmarschall Erich von Manstein, 1955) dominiert. Damit wirkten die Namensgeber der Bundeswehr in vielfacher Weise allenfalls anständig soldatisch. Mit verbrecherischer Kriegsführung schienen sie nichts zu tun zu haben. Erst ab 1969 sollte das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr erste kritische Studien zur Wehrmacht unter Hitler vorlegen.

Die Bundeswehr – Minister und Führungsstäbe – setzten mit solchen Namen bewusst einen Kontrapunkt zu dem, was beispielsweise gerade die Justiz der Bundesrepublik Deutschland intensiv beschäftigte: Die 1958 in Ludwigsburg eingerichtete „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ ermittelte gegen zahlreiche Deutsche, die meist als Angehörige der SS in Verbrechen verwickelt waren, welche nichts mit den eigentlichen Kriegshandlungen zu tun hatten. Die danach stattfindenden Prozesse4 – gegen Personal des Vernichtungslagers Auschwitz in Frankfurt ab 1963, in Düsseldorf gegen ehemalige SS-Angehörige des Konzentrationslagers Majdanek von 1975-81 sowie weitere Prozesse gegen SD-Einsatzgruppenpersonal in Ulm bereits 1958 und vor allem gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1962 – zeigten, dass die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur bei weitem nicht aufgearbeitet waren. Vielmehr hatten eben die Nürnberger Prozesse 1945-48 auch aufgrund ihrer damaligen medialen Wirkung zu einer Schlussstrichmentalität geführt. Der Krieg war vorbei und zahlreiche unterschiedlich Verantwortliche (Soldaten, Ärzte, Diplomaten, Juristen, Industrielle u.a.) in immerhin zwölf Prozessen verurteilt; die verschiedenen Verfahren im Ausland nicht zu vergessen. Ganz offenkundig wurden diese Verbrechen aber beim westdeutschen Wiederaufbau verdrängt, da eine funktionierende Demokratie und eine erstarkende Wirtschaft mit den Menschen errichtet werden musste, die soeben den Krieg hinter sich gelassen hatten. Und die, wie Christina von Hodenberg es umschrieb, bis 1957 eher als „Konsensjournalismus“ agierenden Medien förderten diese Entwicklung. Das Medium Film tat sein Übriges mit Kriegsfilmen wie „Stern von Afrika“ und „Hunde, wollt ihr ewig leben“. Eugen Kogons „SS-Staat“ erschien zwar bereits erstmalig 1946 und jeder Deutsche hätte hier die Folgen des Nationalsozialismus nachvollziehen können. Dennoch scheint das Buch trotz einer sehr hohen Auflage kaum in der Bundeswehr oder von aktiven oder ehemaligen Soldaten gelesen worden zu sein. Es widmete sich ja auch eher der SS.

 

Reaktionäre auf dem Vormarsch

Und tatsächlich zeigte sich Anfang der 1960er Jahre, dass es im Militär trotz Innerer Führung und parlamentarischer Kontrolle zu einer Rückbesinnung auf den „anständigen Soldaten“ kam. Der zweite Wehrbeauftragte, Vizeadmiral a.D. Guido Heye, kam nicht umhin, diesen Trend in seinen Jahresberichten 1963 wie auch 1964 als die Gefahr eines „Staates im Staate“ zu brandmarken. Da er aber seinen Jahresbericht nicht im Bundestag zur Diskussion stellen, sondern allenfalls sozusagen an der Pforte abgeben durfte, blieben seine Beobachtungen eher wirkungslos. Erst als er eine Medienkampagne in der Illustrierten „Quick“ startete und so die Zustände an die Öffentlichkeit brachte, folgte parteiübergreifende Kritik – aber nicht an der Bundeswehr, sondern an seinem Tun. Er trat unter dem politischen Druck resigniert zurück.

Der Streit um die Innere Führung, der sich vor allem an einer Debatte um den Soldatenberuf als einem Beruf „sui generis“ entzündete und noch einige Jahre schwelen sollte, eskalierte 1968/69, um letztlich mit einer großen Verpuffung 1970 zu enden: Als der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Albert Schnez, 1968 eine Studie zur Inneren Lage des Heeres in Auftrag gab, kamen deren Autoren zu beinahe reaktionären Forderungen: Die Bevölkerung müsse für die Verteidigungsbereitschaft auch propagandistisch begeistert werden. Es bedürfe in Staat, Armee und Gesellschaft einer „Reform an Haupt und Gliedern“, um die Armee zu dem zu machen, was sie sein müsse: ein Hort der Sicherheit des Staates gegen alle Anfeindungen und Angriffe, auch gegen diejenigen der allzu kritischen Opposition! Hier ging es um nichts anderes als ein vermeintlich „unpolitisches“ Heer, das eine Sonderstellung im Staat haben sollte. Doch diese Forderung war mit dem Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“, der eben den politisch (und das bedeutete: demokratisch) denkenden Soldaten anstrebt, nicht vereinbar.

Der amtierende Verteidigungsminister Schröder ließ die „geheime“ Studie erst einmal im Panzerschrank verschwinden. Sein Nachfolger Helmut Schmidt (SPD, 1969-72) ging dagegen in die Offensive. Er nahm der Studie den geheimen Charakter und ließ sie gezielt in der Öffentlichkeit kursieren. Freilich nahm er damit in Kauf, dass die Autoren, allesamt konservative Generale mit Karriereaussichten, kräftig desavouiert wurden. Nicht Schnez, aber seine Epigonen wurden zur Ruhe gesetzt. Vor allem Heinz Karst sollte in den folgenden Jahren als Brigadegeneral a.D. und Vordenker der Militär- und Sicherheitspolitik der CDU an deren rechtem Rand agieren. Dass aber Schnez mit seinen Ansichten auch in der Bundeswehr auf Widerstand stieß, belegen die „Leutnante 70“. Sie formulierten ihre geradezu revolutionären Vorstellungen vom Soldatenberuf in einer pluralistischen Gesellschaft. Die vom konservativen Divisionskommandeur Eike Middeldorf inszenierte Reaktion der „Hauptleute aus Unna“, die übrigens alle aus Augustdorf kamen, war eher der Versuch, die Bundeswehr wieder auf den Kampf einzuschwören. Sie klagten vor allem über die Überlastung durch Administration und Papierkriege und die dadurch bedingte Verdrängung des klassisch Soldatischen.

Freilich stellte der Machtwechsel zur ersten sozialliberalen Koalition 1969 auch einen kulturellen Umschwung für die Bundeswehr dar, und dies war nicht allein auf die Kasernennamen zu beziehen. Die von Schmidt angestoßenen Reformen und Umbauten der Bundeswehr ergeben insgesamt den teilweise erfolgreichen Versuch eines Komplettumbaus der Bundeswehr durch Änderungen in der Ausbildung der Offiziere und Unteroffiziere. Die in dieser Zeit benannten Kasernen erhalten die Namen von Politikern wie Fritz Erler (in Kassel), Gustav Heinemann (in Essen-Kupferdreh) oder Kurt Schumacher (in Hannover). Auch Theodor Heuß (Stuttgart), Konrad Adenauer (Köln) und Ludwig Erhard (Neuhausen ob Eck) waren oder wurden noch bedacht. Dennoch war auch die von SPD-Ministern geführte Bundeswehr nicht frei von Rückfällen: 1973 erhielt das Jagdgeschwader 74 in Neuburg den Traditionsnamen „Mölders“5 und 1975 der Fliegerhorst in Appen den von Hans Joachim Marseille. Während aber bei den beiden Jagdfliegerassen – wie früher unter von Hassel und Schröder ebenfalls schon – deren handwerkliches Geschick oder ihre Gabe zur Menschenführung besonders unterstrichen wurde, waren es bei den Politikern ihr Wirken für die Bundesrepublik Deutschland als westlicher Demokratie und die Einbindung der Streitkräfte in eine pluralistisch angelegte Gesellschaft.

Hierbei darf nicht übersehen werden, dass selbst die APO und die „68er“ ein gesellschaftliches Umdenken hin zu einer Fundamentalkritik des Nationalsozialismus, die ihn samt und sonders in Frage stellte, nicht erreichten. Die vielfältigen Funktionseliten der Bundesrepublik Deutschland waren noch zum überwiegenden Teil mit ehemaligen Angehörigen der NSDAP oder ihren Gefolgsleuten wie auch durch sie geprägten Nachfolgern durchsetzt. Die letzten Kriegsgedienten verließen erst in den frühen 1980er Jahren die Bundeswehr. Es gab ganz offenkundig noch genügend Beamte, Soldaten oder Industrieführer, aber auch viele Bürgerinnen und Bürger, die nicht alles am „Dritten Reich“ schlecht fanden.

Insgesamt erscheint die Bundeswehr wie ein Spiegelbild der westdeutschen Gesellschaft: Aus der Vergangenheit wurde das tradiert, was gut schien. Der Rest wurde verdrängt, verschwiegen oder verteufelt. Die Reduzierung des Wehrmachtsoldaten auf den Kameraden von früher – was in tausenden Fällen sicherlich berechtigt erscheinen mag – führte zudem zu vielfältigen und zahlreichen Kontakten von Traditionsvereinen ehemaliger Wehrmachtverbände zu Garnisonen und Truppenteilen der Bundeswehr. Das Jagdgeschwader 71 „Richthofen“ unterhielt lange Zeit enge Bande zu seinen „Vorgängern“ aus zwei Weltkriegen. Das stand auch so im Traditionserlass, den Hassel 1965 in Kraft gesetzt hatte. Er knüpfte auch formal das Band von der Bundeswehr zur Wehrmacht. Der Besuch des Altnazi Hans-Ulrich Rudel, dem höchstausgezeichneten Soldaten der Wehrmacht, im Oktober 1976 auf dem Fliegerhorst in Bremgarten-Eschbach beim Aufklärungsgeschwader 51 „Immelmann“ war damit eine durch den Erlass gedeckte Spitze des Eisberges „Traditionsprobleme“ – aber eben die, die weithin sichtbar war.

Dass dieser Besuch im Nachgang zur Entlassung von zwei Luftwaffengeneralen führte, war nicht nur auf die umfassende mediale Berichterstattung zurückzuführen, sondern auf die veränderte politische Landschaft in der Bundesrepublik. Der Druck auf Bundesverteidigungsminister Georg Leber (SPD, 1972-78) gerade aus den eigenen Reihen zeigte, dass der linke Flügel der SPD nicht länger bereit war, die konservativen Umtriebe in der Bundeswehr zu dulden. Letztlich redeten sich zudem die beiden Generale Walter Krupinski und Karl-Heinz Franke in einem Hintergrundgespräch mit vier Journalisten selbst um Kopf und Kragen: Erst versuchten sie den Besuch herunter zu reden, Rudel habe früher „spintisiert“. Aber danach forderten sie auf, ihm eine Läuterung zuzubilligen. Im Bundestag säßen doch auch ehemalige Kommunisten! Diese Spitze gegen den SPD-Politiker und ehemaligen Bundesminister für Vertriebene Herbert Wehner, früher fraglos Kommunist, aber nunmehr eine Stütze der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, überschritt jedes Maß: Einen Demokraten und damals bedeutenden Politiker der Bundesrepublik mit einem unverbesserlichen Altnazi gleichzusetzen, passte nicht zu Staatsbürgern in Uniform. Ihre Entlassung war für Leber nicht zu umgehen. Stil- und formlos wurden sie nach Hause geschickt.

 

Der Umbruch von Hans Apel

Der skandalisierte Besuch hat freilich nichts mit Kasernenbenennungen zu tun. Dennoch gehört er zum Thema. Er war der Auslöser eines mehrjährigen Prozesses, an dessen Ende am 20. September 1982 Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD, 1978-82) die „Richtlinien zur Traditionspflege und zum Traditionsverständnis der Bundeswehr“ in Kraft setzte. Sie enthalten den für Kasernenbenennungen in Ziffer 29 manifestierten maßgebenden Anspruch, der für die Bundeswehr seitdem gelten soll:

„Kasernen und andere Einrichtungen der Bundeswehr können mit Zustimmung des Bundesministers der Verteidigung nach Persönlichkeiten benannt werden, die sich durch ihr gesamtes Wirken oder eine herausragende Tat um Freiheit und Recht verdient gemacht haben.“

Der Widerspruch zwischen Bundeswehr und anderen deutschen Streitkräften wird an dieser Ziffer unübersehbar. Damit passen weder ein Hindenburg noch ein Moltke, ein Lent und ein Marseille zur Bundeswehr. Und noch mehr zerriss Apel als handelnder Minister mit der Ziffer 6 das Band zwischen Bundeswehr und Wehrmacht, das so lange allein infolge der personellen Kontinuitäten und Kameradschaften bestanden hatte:

„Die Geschichte deutscher Streitkräfte hat sich nicht ohne tiefe Einbrüche entwickelt. In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos missbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.“

Zur Geschichte dieser oftmals als „Traditionserlass“ bezeichneten Richtlinien gehört, dass Apels Nachfolger Manfred Wörner (CDU, 1982-88) sie nach Amtsantritt kassieren wollte. Ein Nachfolgeerlass war schnell entworfen und mit dem Beirat für Fragen der Inneren Führung unter dem Vorsitz von Hans-Adolf Jacobsen diskutiert. Dem Beirat fehlte jedoch im Neuentwurf der eindeutige Hinweis auf die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Sie war eben, wie intensive Forschungen auch des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes mittlerweile nachgewiesen hatten, nicht nur in den Krieg verwickelt, verstrickt oder missbraucht worden. Sie hatte – nicht allein ihre Führung – diesen Krieg mit- und zu dem gemacht, was er war: ein aggressiver Vernichtungskrieg, der das Völkerrecht vielfach vollkommen missachtete. Wörner musste seine neuen Richtlinien aufgeben.

 

Fernwirkungen: „Holocaust“ im Deutschen Fernsehen

Was Auschwitz- und Kriegsverbrecherprozesse in der westdeutschen Gesellschaft nicht erreicht und selbst die Innere Führung in der Bundeswehr nicht geschafft hatte, katalysierte insbesondere eine TV-Serie: Der US-amerikanische Fernsehvierteiler „Holocaust“ trug im Januar 1979 den Judenmord des nationalsozialistischen Deutschland zur besten Sendezeit, abends um 20:15 Uhr, in die deutschen Wohnzimmer. Hier konnte eine Woche lang jeder sehen, wie perfide die Ausgrenzung, Entrechtung, Abschiebung, industrialisierte und geplante Ermordung der Juden in Deutschland und in Osteuropa millionenfach geschah. 34 Jahre nach Kriegsende zeigte das Deutsche Fernsehen im Dritten Programm, mit anschließender Telefondiskussion der Zuschauer mit Fachleuten, in Form eines Spielfilms nahezu alle Grausamkeiten des „Dritten Reiches“. Vereinfacht gesprochen musste nun niemand mehr seinen Großvater fragen, was im Krieg wirklich passiert war.

Vor diesem Hintergrund und begleitet durch den Tod des Durchhalteadmirals Karl Dönitz im Jahr 1980, Hitlers Nachfolger als Reichspräsident und angeblicher Retter von Millionen aus den „Ostgebieten“ 1945, erkannten weite Teile der westdeutschen Gesellschaft das wahre Gesicht des Nationalsozialismus. Hinter dieses Wissen konnte auch die Bundeswehr als Organisation nicht mehr zurücktreten. Apel verbot erst die Teilnahme von Bundeswehrangehörigen in Uniform an der Beisetzung von Dönitz und erklärte zudem, wieso Dönitz nicht traditionsstiftend für die Bundeswehr sein könne: „Soldatisches Handeln kann nicht getrennt werden vom politischen Zweck, dem es dient!“ Und Dönitz diente fraglos dem Nationalsozialismus und Hitler ergeben und bis zuletzt unverbrüchlich.

Damit war klar: Die Wehrmacht ist nicht länger traditionsstiftend für die Bundeswehr. Insofern sind Apels Richtlinien von 1982 eine wichtige Wegmarke, die zum Umdenken auch bei Kasernennamen hätte führen können. Doch die darin formulierten Ansprüche an einen Namensgeber für Kasernen wurden seitdem eher durch Kasernenschließungen umgesetzt. In keinem Fall kam es durch einen Anstoß aus der Truppe zu einer Umbenennung, wenn der Namensgeber belastet war. Und davon gab es viele und gibt es noch einige, nicht nur Lent oder Marseille. Selbst ein Adolf Heusinger, erster Generalsinspekteur der Bundeswehr und zwischen 1937 und 1944 einer der maßgeblichen Planer der Hitler‘schen Kriege ist als Namensgeber einer Kaserne in Hammelburg (seit 1984) zu hinterfragen.

Umbenennungen erfolgten vielmehr nur dann, wenn infolge von Anstößen vor allem aus militärkritischen Kreisen ein Patron so intensiv und überzeugend als Parteigänger, Kriegsverbrecher oder Durchhaltegeneral in Misskredit gebracht worden war, dass ein Minister von oben die Reißleine zog. Doch sie zierten sich lange, auch Apel erwartete Signale von unten. 1996 stürzten auf diese Weise Eduard Dietl und Ludwig Kübler, 2014 zuletzt Hans Graf von Sponeck. Die letzte Freiherr von Fritsch-Kaserne in Pfullendorf wurde 2013 umbenannt. Hier wollte es die Truppe. Dass keine der übrigen vier Fritsch-Kasernen je zuvor umbenannt, sondern alle aufgelöst wurden, zeugt von keinem sachgerechten Umgang mit der Geschichte. Dass Fritsch alles andere als ein Nazi-Gegner war, wusste man – wenn man es wissen wollte – seit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46.

Aber noch eines ist frappierend: Kaum ein Soldat einer deutschen Kaserne weiß, wer ,sein‘ Namensgeber war oder ist. Ebenso gab und gibt es keine Bezüge der Namensgeber aus der Wehrmachtszeit zur Inneren Führung – bis auf die wenigen Ausnahmen aus dem militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Mit den Richtlinien von 1982 waren und sind die wenigsten früheren Namen auch aus anderen Epochen in Einklang zu bringen. Ist es also Militärfolklore oder die Beschwörung der ewig gültigen soldatischen Tugenden, die heute noch Lent und Marseille als Namensgeber erklären sollen?

Freilich sind die drei Traditionslinien der Bundeswehr – die preußischen Reformen, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die eigene Geschichte der Bundeswehr – in Apels Richtlinien nicht explizit genannt. Und nach 35 Jahren scheint dieses Regelwerk auch wegen der „Armee der Einheit“ und der „Einsatzarmee Bundeswehr“ überarbeitungsbedürftig. Vielleicht lässt sich das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform – im Dreiklang aus freiem Menschen, mündigem Staatsbürger und vollwertigem Soldaten – dann auch berücksichtigen. Dies war bisher nämlich nicht der Fall.

Angesichts der derzeitigen Lage der Bundeswehr steht jedoch zu befürchten, dass ein Traditionserlass-Entwurf von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gleich von der Opposition verrissen wird und nicht zur Umsetzung kommt. Egal, wie gut er sein könnte. Bei den Kasernennamen muss man aber nicht warten, bis ein Minister neue Regeln verordnet. Die alten sind eindeutig und ausreichend. Dass dieses Thema bis heute emotional belegt ist, lässt sich im Blog augengeradeaus.net verfolgen.

(Eine größere Studie des Verfassers zur Namensgebung in der Bundeswehr ist derzeit in

 

  • 1. Hans-Jürgen Rautenberg/Nobert Wiggershaus, Die „Himmeroder Denkschrift“ vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977, S. 53.
  • 2. Donald Abenheim, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München 1989; Ralph Giordano, Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr, Köln 2000; Jakob Knab, Falsche Glorie. Das Traditionsverständnis der Bundeswehr, Berlin 1995.
  • 3. Eine Auflistung bietet Knab, Falsche Glorie, S. 57-59 zu den 1956ff. übernommenen alten Kasernen sowie S. 114-116 zum Stand 1994.
  • 4. Eine Übersicht zu den vielfältigen Prozessen bietet http://www1.jur.uva.nl/junsv/Inhvzbrdddr.htm (06.06.2017)
  • 5. Siehe hierzu folgende Beiträge auf dem Portal Militärgeschichte: Klaus Schmider, Werner Mölders und die Bundeswehr. Anmerkungen zum Umgang mit der Geschichte der Wehrmacht, in: Portal Militärgeschichte, 06.06.2016, URL: http://www.portal-militaergeschichte.de/schmider_Moelders; Heiner Möllers, Mölders und kein Ende? Eine Replik auf Klaus Schmider, in: Portal Militärgeschichte, 05.09.2016, URL: http://www.portal-militaergeschichte.de/moellers_moelders; Klaus Schmider, In Sachen Werner Mölders: Gedanken eines Historikers ohne Einblick, in: Portal Militärgeschichte, 28.11.2016, URL: http://www.portal-militaergeschichte.de/schmider_gegenreplik.
Emailadresse: 
Glückauf-Kaserne in Unna (Kasernenneubau, ab 1966 genutzt, aktuell Logistikbataiilon 7, heute noch aktiv)