Ulrich Pagenstecher
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
20. Januar 2016
DOI: 
10.15500/akm.20.01.2016

Die Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird seit über 100 Jahren diskutiert. Sie wird den Beteiligten in unterschiedlichem Grade zugeschrieben. Dabei ging und geht es vornehmlich um den „höchsten“ Grad: ob und welche von den beteiligten Mächten der Hauptverursacher oder der Hauptschuldige war. Das lange dominierende Interesse an der letztlich moralphilosophischen Frage der „Schuld“ ist unter Historikern in neuerer Zeit zurückgetreten.1 Im in der deutschen Forschung unstrittigen Spektrum der Ursachenbefunde2 wird Deutschland nicht die alleinige Urheberschaft aufgebürdet, sondern einerseits die „Hauptschuld“3 attestiert, andererseits seine „Hauptverantwortlichkeit“ bestritten4.

Was fehlt, ist eine eindeutige und allgemein akzeptierte Messlatte für solche Graduierungen. In diesem Beitrag soll ein Verfahren benannt und andeutend exemplifiziert werden, mit dem sich ein „Hauptverursacher“ in prinzipiell empirisch überprüfbarer Weise namhaft machen ließe.

Ein Brandausbruch als Beispiel5

Am Ende einer Siedlung ist ein Feuer entstanden, dem die letzten Häuser zum Opfer fielen. Es stellte sich heraus, dass ein unachtsamer Waldspaziergänger einen Zigarettenstummel weggeworfen hatte. Wenig später ließ ein Anderer etwas Benzin auf die schwach glimmende Stelle tropfen mit der Folge, dass eine Flamme aufloderte, die, vom Wind angefacht, das erste Holzhaus, in dem ein Klempner arbeitete, in Brand setzte. Daraufhin fingen auch die nächsten Häuser Feuer. Alle drei Personen waren „Verursacher“ der Brandkatastrophe, denn nach der berühmten Definition von David Hume6 wäre das Haus ohne ihr Tun (bzw. Unterlassen) nicht abgebrannt. War aber einer von ihnen der „eigentliche“ Verursacher – was z.B. für die Schadensersatzfrage von Belang sein könnte?

Sofern keine weiteren Umstände bekannt sind, wird man zwar von dem „Benzinverschütter“, nicht aber von dem „Zigarettenwegwerfer“ sagen können, sein Tun habe mit hoher Wahrscheinlichkeit den Brand herbeigeführt. Denn ein verlöschender Zigarettenstummel hätte dazu vermutlich nicht ausgereicht. Der Klempner hätte die Flammen eventuell rechtzeitig eindämmen können, das geschah aber nicht. Dies ließ zwar gleichfalls den Brand des Hauses erwarten, doch dazu genügte schon das Verhalten des Benzinverschütters.

Es spricht demnach viel dafür, die Anteile an der Brandverursachung unterschiedlich zu gewichten. Das ist indes, zumal bei komplexen historischen Problemen, ein schwieriges Unterfangen. Als ein de facto nicht ungewöhnliches Konzept bietet sich die „Ex-post-Prognose“ an: Man versucht nachträglich vorherzusagen, welche von den in Betracht gezogenen Ursachen ausreichte, den Eintritt des relevanten Sachverhalts mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit erwarten zu lassen. Ihr käme epistemologisch größere kausale Erklärungskraft zu als lediglich „notwendigen“ Kausalfaktoren. Falls sich ceteris paribus mehrere ausmachen lassen, läge es nahe, diejenige als „Hauptursache“ zu kennzeichnen, die zeitlich am weitesten vor dem Explanandum auftrat. Begnügte man sich mit einem späteren Sachverhalt, so verzichtete man unnötig auf mögliche Erklärungstiefe.

Im Beispiel käme für die Einstufung als „Hauptverursacher“ nur der Bezinverschütter in Betracht. Sein Handeln war sowohl eine „notwendige“ Bedingung, ohne welche das Haus nicht in Brand geraten wäre, als auch eine insofern „hinreichende“ Bedingung, als es die im Kausalnexus früheste Ex-post-Voraussage erlaubte, dass es in Brand geraten würde.

Eine solche Charakterisierung ließe sich anhand wissenschaftstheoretischer Konventionen in einer auch sonst üblichen Weise überprüfen. Dass bei derartigen Analysen streng genommen ein ganzes Netzwerk von theoretischen Annahmen, Hilfskonstrukten, Randbedingungen benötigt würde, sei nur am Rande vermerkt. Derart umfassend gestützte Erklärungen und Voraussagen sind freilich in den Geisteswissenschaften bestenfalls ansatzweise möglich und üblich.

Der „Blankoscheck“ vom 5. Juli 1914 als Hauptursache

Angewandt auf die Kriegsursachenfrage ergibt sich die seit längerem gängige Hervorhebung des „Blankoschecks“ vom 5. Juli 1914. Aus den Dokumenten ist hinreichend ersichtlich, dass Österreich-Ungarn ohne die Zustimmung des deutschen Bundesgenossen die von ihm beabsichtigte „Züchtigung“ Serbiens für das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand vom 28. Juni 1914 nicht gewagt hätte. Wilhelm II. und Reichskanzler von Bethmann-Hollweg gaben sie dann auch am 5. Juli dem österreichischen Botschafter und empfahlen rasche Ausführung.

Angesichts der österreichischen Entschlossenheit, Serbien zu demütigen und der zu erwartenden, von Russland bestärkten serbischen Renitenz, war damit ein bewaffneter österreichisch-serbischer Konflikt sehr wahrscheinlich. Die Entscheidung der Reichsleitung hatte demnach das gleiche Gewicht wie das Benzinvergießen in der Kette der Brandursachen. Auch für die Ausweitung des Anfangskonflikts zum europäischen Krieg kann man die Blankovollmacht – vielleicht mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit – als Hauptursache ansehen. Die Balkanintentionen Russlands, sein Bündnis mit Frankreich und das Deutschlands mit Österreich-Ungarn machten eine Neutralität zumindest der kontinentalen Großmächte – sowohl aus zeitgenössischer wie auch aus heutiger Sicht – höchst unwahrscheinlich.

Mitunter allerdings wird die russische Mobilmachung vom 30. Juli 1914 als dem Blankoscheck gleichwertig7 oder sogar als gewichtiger8 eingeschätzt. Spätestens bei derart gravierenden Divergenzen wird man nicht umhin können, die wissenschaftstheoretischen Kriterien näher zu erörtern, von denen die Verlässlichkeit historischer Ex-post-Prognosen abhängig zu machen ist. Dafür ist hier indes nicht der Ort.

Zur explanatorischen Fruchtbarkeit des Konzepts9

Den Blankoscheck als Hauptursache hervorzuheben bedeutet zugleich, zeitlich weiter zurückreichenden Ursachen ein geringeres Gewicht beizulegen. Das widerstreitet einer Erklärungstradition, der es auf schon lange virulente „tiefer liegende“ Ursachen ankommt: Auf Deutschlands geopolitische Mittellage, sein Weltmachtstreben, seine gesellschaftspolitische Struktur, auf den russischen Panslawismus und dessen außen- und innenpolitische Determinanten, auf Frankreichs Revanchebedürfnis, auf Österreich-Ungarns Nationalitätenprobleme.

Zu große Nähe des Explanans zum Explanandum würde die Erklärung trivialisieren. So hat z. B. der österreichische Befehl zur Beschießung Belgrads vom 28. Juli 1914 formal gewiss den Charakter einer Ursache, denn ohne ihn wäre es nicht zum effektiven Kriegsbeginn gekommen. Gleichwohl wird man den Unterschied zwischen der Feuereröffnung und ihrer (Nah-)Ursache für unwichtig halten, weil beides mit gleicher Wahrscheinlichkeit den Kriegsausbruch zwischen Österreich und Serbien hervorrief.

Zu große Ferne – die berühmte Pascal’sche Nase der Kleopatra, die der Weltgeschichte bei anderer Länge ein anderes Gesicht gegeben hätte – wäre noch weniger angebracht. Auch der so genannte „Anlass“ – hier: das Attentat von Sarajewo – ist seit Thukydides (fast)[10 verpönt.

Die wohl wichtigsten, sich z. T. überlappenden Kriterien für die explanatorische Kraft einer wissenschaftlichen Erklärung sind: (1) ihre Problemrelevanz: ob das Explanans mit hoher Wahrscheinlichkeit das Explanandum zur Folge hat, (2) ihre Treffsicherheit: ob die Kausalkette tatsächlich bis zum erklärungsbedürftigen Sachverhalt reicht und nicht nur in seine Nähe führt, (3) ihr theoretischer Gehalt: wieweit sie sich auf gesetzesähnliche Annahmen stützt, (4) die empirische Prüfbarkeit und Triftigkeit ihrer tragenden Komponenten, (5) ihre logische Stringenz. Ob ihnen der eine oder der andere Erklärungstyp besser gerecht wird, mag von Fall zu Fall verschieden sein, nicht zuletzt von methodologischen Präferenzen des jeweiligen Historikers abhängen.

Im vorliegenden Fall scheint viel dafür zu sprechen, auch der breite Konsens in der neueren Forschung, die größere Erklärungskraft der Hervorhebung des Blankoschecks, mithin einer „Nahursache“, zuzuschreiben: Diese Erklärung führt aufgrund plausibler impliziter Erfahrungsregeln „quasi-theoretischer“11 Art und empirisch gesicherter Anfangs- und Randbedingungen offenbar mit hinreichender Stringenz zum Explanandum-Ereignis: dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

  • 1. Friedrich Kießling, Vergesst die Schulddebatte. In: Mittelweg 36, 23. (2014), H. 4, S. 4-15, hier S. 4 f.
  • 2. Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg – Jahresgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach seinem Beginn. In: Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte 63. (2015), H .2, S. 135-165, hier. S. 136.
  • 3. Heinrich August Winkler, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bonn 2000, S. 332.
  • 4. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1998, S. 659.
  • 5. Leicht abgewandelt entnommen aus J. L. Mackie, The Cement of the Universe. A Study of Causation. Clarendon Press, Oxford 1974, repr. 1988, S. 127.
  • 6. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1777), Hamburg 1984, S. 92 f..
  • 7. Nipperdey (wie Anm. 4), S. 659.
  • 8. Sean McMeekin, The Russian Origins of the First World War, Cambridge 2012, zit. v. Epkenhaus (wie Anm. 2), S. 139.
  • 9. Dazu auch Ulrich Pagenstecher, Ferne und Nähe in der Geschichtsbetrachtung am Beispiel der Marneschlacht von 1914. In: Karl Albrecht Schachtschneider/Henning Piper/Michael Hübsch (Hrsg.), Transport, Wirtschaft, Recht. Gedächtnisschrift für Johann Georg Helm, Berlin 2001 (= Schriften zum Wirtschaftsrecht 133), S. 563-577.
  • 10. Siehe aber Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918, Reinbek bei Hamburg 2013 , S. 28-36.
  • 11. Hans Albert, Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften. In: Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, 10. Aufl., Königstein i. Ts. 1980, S. 126-143, hier: S. 131-139.
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