Alexander Querengässer
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
12. September 2019

Von dem bemerkenswerten Aufschwung, den die deutsche Militärgeschichtsschreibung in den vergangenen Jahren genommen hat, konnte die Forschung zum gesamtdeutschen Militärwesen, sprich der Reichsarmee, bisher kaum profitieren. Die Dissertation von Patrick Leukel über die Reichsarmee im Neusser Krieg 1474/75 ist eine der ersten großen Monografien, die zumindest eine kleine Lücke in der Geschichte der Reichsarmee schließen kann.

Leukel möchte die Reichsarmee vor allem als komplexes organisatorisches Netzwerk verstehen und begibt sich damit auf den Pfad der aktuell populären Netzwerkanalysen. Seinen einleitenden Darstellungen zu Zielsetzung und Aufbau der Arbeit lässt Leukel ein langes Kapitel über das Kriegswesen im 15. Jahrhundert folgen. Trotz des breiten Zugangs, den er hierbei verfolgt, hat das Kapitel gewisse Schwächen. Es fußt fast ausschließlich auf den wenigen mangelbehafteten deutschsprachigen Überblicksdarstellungen jüngeren Datums. Da Leuckel sich sehr stark auf den Hundertjährigen Krieg fokussiert, verwundert es, dass er keine englische und französische Forschungsliteratur zurate zieht. Die Namen Kelly DeVries, Philippe Contamine oder Jan Verbruggen sucht man im Literaturverzeichnis vergeblich. Zudem wird der Bezug zum Kernthema der Arbeit in diesem zu lang geratenen Abschnitt nicht richtig klar. Auch das zweite Kapitel, welches den historischen Rahmen um die Kölner Stiftsfehde erläutert, hätte durchaus enger gefasst werden können.

Im dritten Abschnitt analysiert Leukel schließlich eingehend die Aufstellung des Reichsheeres. Dabei konnte sich Friedrich III. auf denselben Kreis von Fürsten stützen, der auch allgemein in der Reichspolitik hinter ihm stand. Kurfürst Albrecht Achilles von Brandenburg erscheint als der starke Mann an seiner Seite, aber auch die Wettiner und die Kurfürsten von Trier und Mainz beteiligten sich mit starken Aufgeboten, während die Wittelsbacher dem Feldzug fern blieben. Ähnlich wie die großen Reichsfürsten ihre Netzwerke, in Form ihrer regionalen Klientel mobilisierten, gab es auch unter den Reichsstädten Netzwerke mit regionalen Hegemonen. So übernahm Nürnberg die politische Vertretung der fränkischen Städte Windsheim und Weissenburg. Das von den einzelnen Reichsgliedern aufgebrachte Heer war in sich sehr heterogen und bestand aus Lehnsaufgeboten, städtischen Milizen aber auch Söldnerformationen, deren einzelne Zusammensetzung der Autor anhand einiger Beispiele sehr detailliert nachzeichnen kann. Das Kapitel verdeutlicht, dass die Reichsarmee kein zentral organisierter Verband gewesen ist, sondern vor allem durch die führenden Reichsglieder aufgestellt wurde. Das Erscheinen des Kaisers und bedeutender Fürsten war dabei von großer Bedeutung, da es auch andere Reichsglieder motivierte, ihre Kontingente tatsächlich zu stellen, während der Abzug oder eine erfolgreiche Verringerung der zu stellenden Truppenkontingente automatisch negative Folgen für die zahlenmäßige Stärke der Reichsarmee nach sich ziehen konnte.

Die Motivation der einzelnen Reichsglieder, dem kaiserlichen Aufruf zu folgen, bildet die Fragestellung des nächsten Kapitels. Diese bestand nicht nur in der Dienstpflicht gegenüber dem Kaiser. Tatsächlich spielte ein protonationaler Patriotismus, der das Reich im Zuge des burgundischen Angriffs auf Neuss erfasste, durchaus eine wichtige Rolle.

In zwei weiteren Kapiteln analysiert Leukel die Zusammensetzung der fürstlichen sowie der städtischen Kontingente. Die einzelnen Reichsfürsten sahen sich bei der Aufstellung ihrer Aufgebote im kleinen oftmals ähnlichen Problemen gegenübergestellt, wie der Kaiser im großen, versuchten doch Vasallen und Städte die Zahl der geforderten Kontingente zu drücken. Die Städte hingegen mobilisierten eigene Aufgebote oder warben Söldner an. Während die fürstlichen Aufgebote stets auf die Person des Fürsten als ihren obersten Hauptmann ausgerichtet waren, herrschte in den städtischen Kontingenten eine duale Führung, bestehend aus einem militärisch versierten Hauptmann – oftmals ein Söldner – und einem zweiten aus der Mitte des Rates gewählten Hauptmann vor.

Nach dieser Analyse der einzelnen Kontingente untersucht Leukel ihr Zusammenwirken innerhalb des Reichsheeres und versucht Führungsstrukturen herauszuarbeiten. Während zu Beginn des Krieges die großen Fürsten gleichberechtigt nebeneinanderstanden, kristallisierte sich Albrecht Achilles schon bald als Führungsfigur heraus.

Im letzten Kapitel arbeitet Leukel die Strukturen der Reichsarmee heraus. Hierbei spricht er auch die Finanzierung und logistische Versorgung des Heeres an. Gerade der Abschnitt zur Logistik hätte weiter ausgebaut werden können, denn hier bleiben offene Fragen. In den vorangegangenen Kapiteln erwähnt Leukel, dass einige Reichsstände enorme Kosten zu stemmen hatten, weil Versorgungsgüter, die auf dem Main und Rhein nachgeführt wurden, weiterhin verzollt werden mussten, während Flussschiffer dramatisch ihre Preise anzogen. Im letzten Kapitel heißt es dann, der Kaiser und auch einzelne Reichsstände hätten eine zollfreie Passage von Versorgungsgütern erwirken können. Eine intensivere, geschlossene Beschäftigung mit diesem Themenkomplex wäre für die Frage nach der Effektivität der Kriegsbemühungen des Reiches von großer Bedeutung gewesen.

Leukels Arbeit stellt definitiv eine Bereicherung für die Forschung dar, hat aber auch einige Schwächen. Sein Stil ist von vielen Redundanzen geprägt. Außerdem neigt der Autor dazu, einzelne Aspekte seines Themas zu stark seiner Methode der „Netzwerkanalyse“ unterzuordnen und mit Begriffen wie „kommunikativer Multiplikator“ sprachlich zu verwissenschaftlichen. Die Analyse der einzelnen Kontingente handelt er ausführlich nacheinander ab. Ein komparativer Ansatz wäre hier geeigneter gewesen, um die generellen Gemeinsamkeiten fürstlicher oder städtischer Kontingente herauszuarbeiten. Auch sein finales Urteil, wonach von „neuen Momenten der Heeresorganisation […] im Reichsheer nur bedingt gesprochen werden [kann]“ (526), wirkt wie eine unnötige Bagatellisierung. Tatsächlich stellen die Reichsmatrikel, nach denen seit 1422 die Anschläge für die Reichsarmee erstellt wurden, aus reichsgeschichtlicher Sicht einen großen Schritt hin zur Organisationsstruktur der Frühen Neuzeit dar. Dass diese Aufgebote schließlich nach eher altherkömmlichen Methoden über die einzelnen Reichsglieder organisiert wurde, liegt am Fehlen eines zentralen Organisationsgremiums auf Reichsebene, ein Punkt, den Leukel dann aber nicht ausführt. Stattdessen versucht er die Fortschrittlichkeit der Reichsarmee von einem dualistischen Vergleich mit der burgundischen Armee abzuleiten, die seinerzeit als modern galt. Zwar gibt Leukel zu, dass die strukturellen Voraussetzungen in Burgund andere waren, dies führt aber nicht zur Einsicht, dass dadurch ein solcher Vergleich hinfällig wird.

Trotz der genannten Mängel liegt hier eine fundierte, faktenreiche Arbeit zur Reichsarmee vor, an welche die Forschung dringend anknüpfen sollte.

 

Patrick Leukel, „all welt will auf sein wider Burgundi“. Das Reichsheer im Neusser Krieg 1474/75 (=Krieg in der Geschichte 110). Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019,ISBN 978-3-506-70914-1; 594 S.; € 148,00.

 

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